»Die Quotenregelung war vom ersten Tag an eine Wahnsinnsidee«

Günter Verheugen über Migrationspolitik und den Sittenverfall in der EU-Spitzenbehörde, den Sinn der Marktwirtschaft und warum er Manfred Weber für keinen geeigneten Kommissionspräsidenten hält

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Europa – »Die Quotenregelung war vom ersten Tag an eine Wahnsinnsidee«

Herr Verheugen, wird der nächste EU-Kommissionspräsident Manfred Weber heißen?

Das halte ich für sehr unsicher. Es gibt doch starke Zweifel, ob Manfred Weber das Zeug hat, eine so komplizierte Institution wie die Europäische Kommission zu leiten. Welche Kommission sich aus der nächsten Europawahl ergibt, ist vollkommen offen. Die Vorstellung, die bei den Wählerinnen und Wählern erweckt wird, ist, dass automatisch derjenige, dessen Partei die meisten Stimmen erhält, nächster Kommissionspräsident wird, ist falsch. Am Ende wird die Person Kommissionspräsident oder Kommissionspräsidentin, die im Parlament eine Koalition hinter sich vereinigen kann. Aber diese Koalition wird nicht wie früher eine der beiden bisherigen großen Blöcke, Europäische Volkspartei und Sozialdemokraten S&D, sein. Dazu werden wenigstens drei Partner gebraucht. Ich glaube nicht, dass es in einer solchen Konstellation sehr viel Neigung gäbe, den Repräsentanten einer eher EU-kritischen Partei wie der CSU diese Aufgabe anzuvertrauen.

Welche Konstellation halten Sie denn für wahrscheinlich?

Das hängt sehr davon ab, was die großen Mitgliedstaaten wollen, was die Franzosen wollen, die Italiener, natürlich auch die Deutschen. Ich rate im Augenblick wirklich von jeder Spekulation ab. Es könnte genau so gut ein Vertreter oder eine Vertreterin der Liberalen oder der Sozialdemokraten oder der liberaleren Konservativen an die Kommissionsspitze rücken. Natürlich hängt das auch vom Wahlergebnis ab. Und ebenso klar ist, dass es wie nach der EP-Wahl von 2014, bei der die Parteienfamilien europaweit mit Spitzenkandidaten angetreten waren, den öffentlichen Druck geben wird, die stärkste Parteiengruppe entsprechend zu berücksichtigen. Ich bin sowieso skeptisch, was die Idee von Spitzenkandidaten angeht, da ich es für eine Scheindemokratisierung halte.

Aber dass europäische Sozialdemokraten mit Martin Schulz oder die Konservativen mit Jean-Claude Juncker 2014 »ein Gesicht bekommen« hatten, ist doch auch eine Form der Transparenz, die von der EU immer gefordert wird.

Dass sich außerhalb von Deutschland damals viele für den Spitzenkandidaten Martin Schulz interessierten, bezweifle ich. Spitzenkandidaten wären ein logisches Ergebnis, wenn wir auf der Ebene der EU eine volle parlamentarischen Demokratie hätten. Der Versuch, die Regeln nationaler Parteienpolitik auf europäische Ebene zu hieven, haben in meinen Augen schon zu einem sehr bedenklichen Kulturwandel geführt in der Europäischen Kommission geführt.

Was meinen Sie damit?

Nun, die Kommission ist längst nicht mehr das, was sie laut Vertrag sein soll: überparteilich, übernational, unabhängig und neutral. Früher galt die Regel, die Kommissare halten sich raus aus der Parteipolitik und aus der nationalen Politik. Ich finde den jetzigen Zustand, dass amtierende Mitglieder der Kommission für das Europäische Parlament kandidieren und Wahlkampf für ihre Parteien betreiben, sehr bedenklich. Ich will das Beispiel von Frans Timmermans nennen, mein eigener Parteifreund. Sicher ein leidenschaftlicher Europäer und hochqualifizierter Mann. Er ist aber zum Beispiel zuständig für die Verfahren gegen Polen und Ungarn. Es ist doch klar, das beispielsweise die Regierungspartei in Polen das Rechtsstaatsverfahren gegen sich als Wahlkampfhilfe für die polnische Opposition abtun kann.

Die Stärke der Kommission lag immer darin, dass ihre Entscheidungen nicht parteipolitisch oder von nationalen Gesichtspunkten gefärbt waren. Das ist seit Juncker sehr stark in der Veränderung begriffen und die Befürchtung ist, dass das immer weiter geht.

Das sind pessimistische Aussichten, auch, weil dahinter nicht nur die Parteienfrage, sondern das ganze Verhältnis Rat-Kommission-Parlament steht, was sich nach meinem Dafürhalten zumindest nicht zum Positiven entwickelt hat. Sie haben die Juncker-Kommission angesprochen, und ich glaube, so viele Knüppel, wie Juncker zwischen die Beine geworfen wurden vom Rat, hat es vorher nicht gegeben. Beispielsweise in der Migrationspolitik, bei der Quotenregelung für die Aufnahmen von Geflüchteten ...

… aber die Quotenregelung war doch eine Wahnsinnsidee vom ersten Tag an. Es ist doch vollkommen klar, dass man auf der Grundlage des geltenden Vertrags einem Mitgliedsstaat nicht vorschreiben kann, ob er Flüchtlinge aufzunehmen hat und wie viele. Diese ganze Politik war total unglaubwürdig deswegen, auch deshalb, weil von europäischer Solidarität und europäischer Lastenteilung in der Flüchtlingsfrage nicht die Rede war, solange das Problem ein ausschließlich griechisches und italienisches war. Ich erinnere mich noch gut an Herrn de Maizière als Bundesinnenminister, kurz bevor auch die Bundesrepublik erfasst wurde, der sagte, Italien sei stark gefordert, aber keineswegs überfordert. Das heißt, das Thema Solidarität hat für die Bundesrepublik Deutschland als dem wichtigsten Land der EU keine Rolle gespielt; als Schengen-Binnenland waren wir fein raus, die anderen sollten das für uns erledigen.

Anderes Beispiel, der Juncker-Vorschlag für ein zwei-Kammern-System in Europa, um den leidigen Streit zwischen Rat und Parlament hinter sich zu lassen.

Das ist die logische Konsequenz, wenn man wie Juncker eine föderale EU will. Aber Ihre Frage eilt der Entwicklung um viele Jahre voraus. Hier geht es um die Frage nach der endgültigen rechtlichen und politischen Gestalt der europäischen Integration. Also wenn wir uns - was wir als Deutsche ja gerne tun - am Ende so etwas wie eine Bundesrepublik EU vorstellen, also einen föderalistischen europäischen Staat, dann ist klar, dass der in seiner parlamentarischen Repräsentanz ein föderales Element braucht. Ich selbst würde das nicht unbedingt vergleichen mit der Bundesrepublik, sondern eher mit den USA, wenn Sie sich Senat und Abgeordnetenhaus anschauen. Im Senat hat Wyoming mit einer Million Einwohnern dasselbe Gewicht wie Kalifornien mit über 40 Millionen. Und das ist korrekt so in einem strikt föderalen System. Ich kenne nur kein Volk in der EU, dass das will.

Früher ist die EU wegen der Gurken-Verordnung verspottet worden, heute geht’s um Grundsätzliches. Es geht um Euro-Austritt, es geht um EU-Austritt, es geht um Sozialabbau. Wir haben uns mal Umfragen angeguckt, und da ist relativ deutlich, dass vor allem Menschen, die sich selber den unteren sozialen Schichten zuordnen, skeptisch gegenüber der EU sind. Was ist schief gelaufen?

Machen wir das mal in zwei Teilen. Also zuerst den Klassiker, das Bürokratiemonster EU.

Stichwort Gurkenkrümmung.

Die Gurke ist aber das allerschlechteste Beispiel.

Aber das griffigste.

Diese Regelung ist längst abgeschafft von der EU, aber durch die Hintertür durch die EU mit Hilfe von Beschlüssen der UN-Wirtschaftskommission für Europa wieder eingeführt worden. Das mit der Gurke war ja nichts anderes als eine Handelsklasse. Und die Frage ist: Wollen wir nationale Handelsklassen oder wollen wir europäische? Der Unterschied zur ursprünglichen Regelung in der EU besteht nur darin, dass es heute auch Gurken gibt, die in keine Handelsklasse gehören.

Es ist ein Beispiel dafür, dass der EU etwas zugeschoben wird, was sie gar nicht zu verantworten hat.

Die Gurke wurde zum Stammtischsymbol. Niemand erklärte, dass die Gurkenerzeuger und Händler diese Regelung brauchten und wollten. Aber es ist eben so, dass Parteipolitiker immer wieder der Versuchung anheim fallen, wenn ihnen nichts Besseres einfällt und der Saal fast eingeschlafen ist, auf EU-Bashing zu setzen. Per se ist eine Vereinheitlichung von bestimmten Regelungen in einem Binnenmarkt immer positiv. Das erleichtert sowohl den Herstellern wie dem Handel wie auch den Verbrauchern das Leben. Wo Kritik ansetzen muss, ist, dass die Regulierung oft über das Ziel hinaus schießt oder viel zu detailliert ist. Oder sich Regeln ausgedacht werden, die kein Mensch braucht.

Und die soziale Dimension?

Wenn EU-Bürgerinnen und -Bürger oder sogar ihre politischen Repräsentanten glauben, dass die EU nur für große Konzerne da ist, dann ist das ein sehr ernstzunehmendes Problem und man muss fragen, woher das kommt. Ich glaube, dass Gründe dafür in der sogenannten Bankenrettung und im Umgang mit Ländern wie Griechenland in der Schuldenkrise liegen. Grundsätzlich kommt hinzu, dass der EU-Vertrag keine Harmonisierung von Sozialsystemen erlaubt. Aber der EU-Vertrag sieht das Ziel der Vollbeschäftigung vor. Deshalb müsste dieses Ziel in allen wirtschaftspolitischen Handlungen der EU energisch verfolgt werden. Das ist das sogenannte mainstreaming. Das aber ist nie gemacht worden. Wer ein sozialeres Europa will, sollte nicht abstrakt über mehr soziale Gerechtigkeit reden, sondern klar sagen, dass das Ziel der Vollbeschäftigung zu vernünftigen Lohnbedingungen politisch einzulösen ist. Welcher Mensch sagt schon, er wäre gegen soziale Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit lässt sich schwer definieren.

Ja, sehr schwer. Ich will ein Beispiel nennen, wo nach meiner Meinung die EU gefordert ist: Wir stehen vor den vielleicht weitreichendsten Veränderungen der Arbeitswelt seit Beginn des Industriezeitalters - Digitalisierung, Automatisierung, Robotisierung, Künstliche Intelligenz. Und ich halte es für naiv zu glauben, dass alles schon gut gehen wird und durch gesteigerten Bedarf weltweit dann gute Arbeitsplätze in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Deswegen haben wir ja die Diskussion über das Bedingungslose Grundeinkommen. Wenn zunehmend Konzernchefs darüber reden, dann suchen sie nach einem Weg, wie die Verlierer der Arbeitswelt von morgen ruhig gestellt werden können. Und wir haben schon massenhaft Verlierer der Globalisierung, die auch nicht vorgesehen waren und jetzt unsere politischen Systeme erschüttern. Die künftige EU-Politik sollte deshalb soziale Stabilität als echte Priorität ansehen.

Die Konstruktion der EU ist eine sehr marktliberale. In Deutschland, hieß es zuerst, gäbe es zu hohe Löhne, die im internationalen Wettbewerb nicht mehr wettbewerbsfähig seien. Anschließend wurde moniert, Frankreich habe zu hohe Sozialabgaben. Generell wird Sozialpolitik als Problem für Wettbewerbsfähigkeit gesehen. Ist das nicht ein Problem für die EU, das diese für die Menschen weiter delegitimiert?

Das müssen wir etwas aufdröseln. Zunächst sind Binnenmarkt und die Währungsunion die beiden herausragenden wirtschaftspolitischen Errungenschaften, mit denen der Wohlstand insgesamt gefördert werden soll. Aber: Weder der Binnenmarkt noch die Währungsunion entfalten die gleichen positiven Wirkungen in allen Mitgliedsstaaten, die großen Gewinner sind Deutschland und einige wenige andere. Die starke wirtschaftliche Position, für die Deutschland bekannt ist, ist ein Ergebnis der ungleichmäßig verteilten Vorteile des Euro. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, dass es dem europäischen Gedanken unglaublich geschadet hat und für lange Zeit noch schaden wird, wie die sogenannte Euro-Krise bearbeitet wurde, insbesondere unter dem Druck von Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble. Nicht nur, was die Inhalte angeht, sondern auch hinsichtlich der Art und Weise, wie diese Politik umgesetzt wurde. Was wir in Deutschland begreifen müssen: Wenn wir diese europäische Integration, die so vorteilhaft ist für uns, behalten wollen, werden wir in unserer nationalen Politik eine ganze Menge Änderungen vornehmen und begreifen müssen, dass es so nicht weitergehen kann, dass die Vorteile bei uns landen und die Nachteile bei den anderen. Ganz prinzipiell, ein stabiler sozialer Rahmen ist keine Gefahr für unsere Wettbewerbsfähigkeit, sondern tatsächlich ein Wettbewerbsvorteil.

Sie haben eingangs Ihrer Antwort darauf hingewiesen, das nicht alle Effekte von Binnenmarkt und Währungsunion eingetreten sind, Sie haben auf den Abstand hingewiesen in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht zwischen den Staaten. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass gerade in den starken Staaten - Deutschland, Niederlande, Österreich, Belgien - Rechtskräfte im Aufschwung sind, die gerade mit diesen sozialen Komponenten spielen und dafür Zulauf erhalten?

Da widerspreche ich: Der Trend zu populistischer, nationalistischer Politik quer durch Europa erreicht alle Länder, nicht nur die wohlhabenden. Schauen Sie zum Beispiel in die neuen Mitgliedsstaaten, dort gibt es teilweise sehr erschreckender Tendenzen. Im weitesten Sinne ist die Rechtsentwicklung wohl eine Reaktion auf die Ungewissheiten, die durch die ökonomische Globalisierung und die geopolitische Veränderung entstanden sind. Die Zukunft erscheint unsicher und ungewiss für viele Menschen, in Verbindung mit dem Gefühl, Opfer des wirtschaftlichen Wandels zu sein.

Sie haben mehrfach von der Notwendigkeit gesprochen, die europäischer Integration zu vertiefen. Erleben wir mit dem Brexit nicht gerade das Gegenteil?

Ja, sicher. 2016, nach dem Referendum in Großbritannien, war die überwiegende Sorge die vor einer »Ansteckungsgefahr«. Ich sehe heute aber kein anderes EU-Land, wo es eine ernsthafte Bewegung gibt, aus der EU rauszugehen. Aber klar ist, der Brexit wird beide Seiten schwächen. Die EU vor allen Dingen politisch, weil internationales Gewicht verloren geht. Und die Briten werden sehen, das Träume vom Empire keine wirkliche Politik ersetzen und das sie ziemlich allein dastehen werden.

Der Brexit ist ja auch eine nationalistische Bewegung. Wir haben vorhin über Rechtspopulismus geredet, Sie haben gesagt, wo Sie die Ursachen sehen. Den Menschen erscheint aber nicht nur die Zukunft unsicher, sondern auch die Gegenwart mit prekären Jobs, der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister sagt zum Beispiel, durch die marktliberale Politik sind, nicht gewollt, aber im Ergebnis nationalistischere Positionen gefördert worden.

Das hängt davon ab, wie Sie marktliberal definieren. Das ist ein hinreichend unklarer Begriff. Aber insgesamt halte ich den Kurs, den Staat zurückzudrängen zu Lasten der Selbstregulierung durch die Märkte, für eine der wichtigsten Erklärungen der derzeitigen fatalen Lage, in der wir uns befinden. Ich bin ja, wie Sie wissen, ein Sozial-Liberaler, und was einen Sozial-Liberalen von einem Marktliberalen unterscheidet, ist die Auffassung von der Rolle des Staates im Wettbewerb. Der Sozial-Liberale sagt, der Staat ist nicht der Feind, sondern der Staat ist der Partner. Der Staat ist dazu da, den Schwächeren in der Gesellschaft vor der Macht und den Zugriff der Stärkeren zu schützen. Der große Irrtum am Marktliberalismus ist, dass der Markt eben keinen Umweltschutz, keine soziale Sicherheit, keine Rechtssicherheit organisiert, das macht der Markt einfach nicht. Was er tatsächlich organisiert, ist wirtschaftliche Effizienz und riesige soziale Diskrepanzen.

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