»Die Kampagne geht jetzt erst richtig los«

Die Pflege-Gewerkschaft »National Nurses United« macht mit Haustürbesuchen mobil für eine allgemeine staatliche Gesundheitsversorgung in den USA

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wir kämpfen, um zu gewinnen, Medicare für alle!« steht auf den roten T-Shirts, die sich ein Dutzend Krankenpflegerinnen, darunter auch zwei Männer, übergezogen haben, bevor sie im Örtchen Highland Park im Bundesstaat New Jersey ausschwärmen. Die Vorbereitungen für die Hausbesuche an diesem Nachmittag laufen seit Wochen: wer wo anklopft und mit welchen Stichworten die Forderung nach einer allgemeinen Krankenversicherung vorgetragen werden soll.

Die allgemeine Krankenversicherung »Medicare for all« würde ausnahmslos alle US-Bürger versichern, inklusive augen-, zahn- und reproduktionsärztliche Vorsorge und Behandlung. Die Krankenpflegerinnen argumentieren, dass das Programm weniger kosten würde; selbst Unternehmen würden sparen. Vorbei wären die Zeiten der 50-Dollar-Zuzahlungen, der hohen Selbstbeteiligungen und Rechnungen, die immer mehr Amerikaner - selbst wenn sie versichert sind - in den Ruin treiben.

Die größte Pflege-Gewerkschaft der USA, die »National Nurses Union«, fordert seit vielen Jahren eine allgemeine Krankenversicherung, wie es sie in Kanada oder Westeuropa gibt. 2015 unterstützte sie deswegen Bernie Sanders, der die Forderung in den Mainstream hievte. Bei den Midterm-Wahlen 2018 war die Forderung ein Hauptthema. Ende Februar schließlich mündete sie in den Gesetzesentwurf »Medicare for All Act«, auf den Weg gebracht von der Abgeordneten Pramila Jayapal und unterstützt von 103 weiteren Demokraten. Damit der Entwurf Gesetz werden kann, sind riesige Hürden zu überwinden: Es bräuchte einen neuen Präsidenten, der »Medicare for All« unterzeichnen würde, sowie genug Stimmen im US-Senat, in dem die Republikaner derzeit eine 53 zu 47 Mehrheit haben.

Der Blick richtet sich deshalb auf das Wahljahr 2020. Doch vorher müssen noch der Großteil derjenigen 130 Abgeordneten der Demokraten im Repräsentantenhaus überzeugt werden, die den Entwurf bisher nicht unterstützen - und die laut einer Analyse im Laufe ihrer Karriere 43 Millionen Dollar Spenden von der Gesundheitsindustrie erhalten haben sollen. Insgesamt wären die Stimmen von 218 Abgeordneten für eine einfache Mehrheit nötig; die Demokraten haben 233 Sitze.

Den Aktivistinnen mit den roten »Medicare-for-All«-T-Shirts in Highland Park ist dies bewusst. Ihre »National Nurses Union« mit über 150 000 Mitgliedern hat nicht nur in New Jersey, sondern in zwei Dutzend weiteren US-Bundesstaaten an diesem Sonntag Hausbesuche und Telefondienst für Anrufe bei potenziellen Unterstützern organisiert. Für die 45-jährige Bonnie Harris, die in einem regionalen Krankenhaus als Oberschwester arbeitet, ist die Mobilisierung ein Muss. »Noch nie waren die Chancen auf eine vernünftige Krankenversicherung in den USA so gut wie zur Zeit«, sagt sie zuversichtlich. Umfragen stützen ihre Behauptung. Generell befürworten gut 70 Prozent der Befragten seit Monaten »Medicare for All«. Doch diese Zahl schrumpft auf eine knappe Mehrheit zusammen, wenn die Frage nach der Abschaffung bestehender privater und betrieblicher Krankenversicherungen und nach ihrem Ersatz mit einem staatlichen System aufkommt. Wenn »Medicare for All« Privatversicherungen eliminieren würde, wären gar nur noch 37 Prozent dafür. Dennoch stellen diese Zahlen im Vergleich zu den Jahren vor 2015/2016 einen großen Fortschritt dar, als eine staatliche Krankenversicherung von in der Öffentlichkeit als verrückt abgetan wurde und sogar Obamacare - das die Privaten nicht antastete - als »sozialistisches Teufelswerk« verdammt wurde. »Die Kampagne geht jetzt erst richtig los,« weiß Bonnie Harris, »denn die Privatunternehmen rotten sich bereits gegen uns zusammen«. Tatsächlich beobachten die Lobbyverbände der Pharma-, Versicherungs- und Gesundheitsindustrie mit Sorge um ihre Profite, wie populär »Medicare for All« geworden ist.

Laut einer Erhebung des Center for Responsive Politics gab allein die Lobbyvereinigung America’s Health Care Future im vergangenen Jahr 143 Millionen Dollar für Gegenaktivitäten aus: von »Studien«, die den USA wirtschaftlichen Ruin prophezeien bis hin zu Auftragstexten für örtliche Zeitungen. »Es handelt sich um ein systemisches Problem«, seufzt Harris, »aber wir tun alles, um die Leute darüber aufzuklären«.

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