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»Sexismus gehört im Europaparlament zum Alltag«
Julia Reda über ihren Austritt aus der Piratenpartei, sexuelle Anfeindungen gegenüber Frauen im politischen Alltagsbetrieb und die Politikverdrossenheit junger Leute
Wieso sind Sie aus der Piratenpartei ausgetreten?
Aus den Gründen, die ich auch in meiner Videobotschaft genannt habe. Ich möchte nicht, dass Leute, die aufgrund meiner Arbeit die Piratenpartei wählen, dazu beitragen, dass Gilles Bordelais ins Europaparlament gewählt wird. Bordelais steht weiterhin auf Listenplatz zwei der Piratenpartei, obwohl es Beschwerden über sexuelle Belästigung durch ihn gibt. Der zuständige interne Ausschuss des Europaparlaments hat im Februar bestätigt, dass Aspekte des Verhaltens von Bordelais sexuelle Belästigung darstellen. Ich habe mich lange gegen die EU-Urheberrechtsreform eingesetzt und dafür viel Unterstützung erfahren, besonders in den letzten Wochen. Ich möchte aber nicht, dass diese Unterstützung am Ende dazu führt, dass Bordelais gewählt wird. Zudem kann ich nicht für eine Partei stehen, die ich aufgrund des Umgangs mit Bordelais selbst nicht wählen werde.
Werden Sie sich weiter politisch engagieren?
Ja, das habe ich vor. Allerdings nicht parteipolitisch. Ich werde weiter an dem Thema Urheberrechtsreform dran bleiben. Es ist mir wichtig, jetzt auch in den nächsten Wochen über meine Erfahrungen mit dem Umgang mit Beschwerden über sexuelle Belästigung im Europaparlament zu reden.
War der Umgang mit den Vorwürfen sexueller Belästigung ein Grund für Ihren Austritt?
Ja, das ist auch Teil des Grundes. Einerseits war es mir wichtig, dass die Piratenpartei nicht mit meinem Namen für die Europawahl in Deutschland wirbt. In anderen Ländern stehe ich ja durchaus nach wie vor zu den dortigen Piratenparteien, die auch mit dem Umgang mit Bordelais nichts zu tun gehabt haben. Aber wenn ich in der Partei verbleibe, führt dies eventuell dazu, dass Leute deshalb bei der Europawahl die Piratenpartei wählen. Andererseits trete ich aber auch aus, weil ich unzufrieden damit bin, wie der Bundesvorstand der deutschen Piratenpartei mit den Vorfällen umgegangen ist. Ich bin der Meinung, man hat nicht alles getan, um Gilles Bordelais von der Liste zu entfernen.
Was hätte denn Ihrer Meinung nach mehr getan werden müssen?
Zunächst hatte im November der Spitzenkandidat der Piratenpartei bei einem Parteitag einen Antrag gestellt, dass der Vorstand Wege prüfen soll, um Bordelais von der Liste zu entfernen. Und dieser Antrag ist nicht zur Beratung zugelassen worden. Bordelais hatte erklärt, er werde zurücktreten, sofern der zuständige Ausschuss bestätigt, dass sexuelle Belästigung durch ihn stattgefunden hat. Als dies passierte, hat Bordelais auch dem Bundesvorstand seinen Rücktritt von der Liste erklärt. Der Bundesvorstand hat diesen auf der Website der Piratenpartei bekannt gegeben.
Was war dann das Problem?
Wenige Tage später hat Herr Bordelais aber eigenmächtig beim Bundeswahlleiter seine fehlende Unterlage für die Zulassung zur Wahl nachgereicht und dadurch den Vorstand gezielt getäuscht. Als der Bundeswahlausschuss dann schließlich über die Sache entschieden hat, hat der Bundesvorstand meiner Ansicht nach dem Wahlausschuss keine vollständigen Informationen darüber gegeben, warum Herr Bordelais von der Liste gestrichen werden sollte. In seiner öffentlichen Stellungnahme hat der Bundesvorstand Bordelais sogar zunächst mehr oder weniger in Schutz genommen. Und alles das halte ich für einen falschen Umgang mit der Sache.
Sie hatten aber schon früher bekannt gegeben, dass Sie zur Europawahl nicht noch mal antreten möchten. Das hatten Sie damit begründet, dass Sie nicht weiter als Berufspolitikerin arbeiten möchten.
Ja, das stimmt. Und das eine hat auch mit dem anderen nichts zu tun, denn die Entscheidung, nicht noch mal zur Europawahl anzutreten, habe ich vor der Aufstellungsversammlung für die Europaliste getroffen. Und zum Zeitpunkt der Aufstellungsversammlung wusste ich auch noch nichts von den Vorwürfen gegenüber Herrn Bordelais.
Wie wird denn mit Sexismus bei den Piraten allgemein umgegangen?
Die Piratenpartei hat meiner Meinung nach schon immer fehlendes Fingerspitzengefühl für das Thema an den Tag gelegt. Ich kann mich erinnern, als es zum ersten Mal eine Sexismusdebatte in der deutschen Piratenpartei gab, haben viele Mitglieder sehr aggressiv reagiert. Sie waren beispielsweise dagegen, dass es spezielle Diskussionsräume gibt, die nur Frauen offen stehen. Und ich glaube, dass die Piratenpartei nicht genug dafür getan hat, dass es ausgeglichene Geschlechterverhältnisse auf ihren Wahllisten gibt. Das sind alles Probleme, die seit vielen Jahren bekannt sind.
Sie haben als Frau in der Piratenpartei eine steile Karriere hingelegt. Hatten Sie das Gefühl, dass Sie sich als Frau besonders durchsetzen mussten? Haben es Frauen schwerer, bei den Piraten Karriere zu machen?
Die Europaliste, auf der ich 2014 aufgestellt wurde, war sehr ausgeglichen. Da waren auf den ersten sechs Plätzen drei Frauen und drei Männer. Ich habe allerdings festgestellt, dass die anderen Frauen auf dieser Liste wesentlich stärker angefeindet wurden, teilweise auch sexistisch, als mir selbst das passiert ist.
Und das waren auch Anfeindungen aus der eigenen Partei?
Ja.
Sie wollen sich weiter politisch engagieren, aber nicht in einer Partei. Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Ich glaube, ich werde jetzt erst mal über die letzten fünf Jahre reflektieren und habe da noch keine konkreten Entscheidungen getroffen, wie ich mich in Zukunft in die Debatte einbringen werde.
Wie erklären Sie jungen Menschen Ihren Austritt, denen Sie durch Ihre Arbeit Hoffnung gegeben haben? Oder auch allen jungen Menschen, die sich erst über die Reform des Urheberrechts politisiert haben, die vielleicht gedacht haben, sie gehen jetzt zum ersten Mal bei einer Europawahl wählen.
Es gibt eine große Auswahl an demokratischen Parteien, die sich beim Thema Upload-Filter vorbildlich positioniert haben. Ich empfehle den Erstwähler*innen oder allen Wählerinnen und Wählern, sich intensiv mit den Parteien und auch mit dem Personal auseinanderzusetzen, damit man weiß, wen man da wählt.
Und ich denke, dass es auch sehr wichtig ist, den Druck auf die Bundesregierung aufrecht zu erhalten, die ja die Reform immer noch stoppen kann, und das auch klar zu einer Wahlkampffrage zu machen. Gerade die SPD hat im Europaparlament klar dagegen gestimmt und auch einen Parteitagsbeschluss getroffen, dass sie gegen Artikel 13 ist. Ich halte es für wichtig, dass dann Leute, die mit dem Gedanken spielen, die SPD zu wählen, tatsächlich einfordern, dass die SPD das in der Bundesregierung auch versucht durchzusetzen.
Es gibt sicher Parteien, die man guten Gewissens wählen kann. Es ist aber wichtig, niemanden zu wählen, der offensichtlich für ein politisches Amt völlig ungeeignet ist. Wir wissen ja inzwischen, dass Herr Bordelais gezielt versucht hat, seine eigene persönliche Position so weit es geht zu verbessern und zu schützen. Er hat dabei billigend in Kauf genommen, dass er meiner politischen Arbeit massiv geschadet hat und möglicherweise das auch zur Niederlage bei der Abstimmung über die Uploadfilter beigetragen hat.
Sind Sie optimistisch, dass die Urheberrechtsreform doch noch verhindert werden kann?
Ich bin nicht sehr optimistisch, muss ich sagen, weil die Bundesregierung bisher trotz aller Kritik dafür gestimmt hat. Ich finde es ehrlich gesagt skandalös, dass sowohl die SPD als auch die CDU sagt, sie wollen keine Upload-Filter und das jetzt trotzdem durchwinken wollen. Möglicherweise noch nicht einmal, weil sie inhaltlich dahinter stehen, sondern weil das eine Abmachung mit der französischen Regierung ist. Ich glaube, ein solches Verhalten fördert eher die Politikverdrossenheit und ist der jungen Generation, der das Thema wirklich wichtig ist, nicht vermittelbar.
Haben Sie im Europaparlament Sexismus erfahren?
Ja, Sexismus gehört im Europaparlament zum Alltag. Das beginnt damit, dass gerade ältere Kollegen regelmäßig sexistische Äußerungen in Sitzungen tätigen.
Sexuelle Belästigungen auch?
Anscheinend schon. Zum Beispiel hat »#MeToo«-EP (die »#MeToo«-Initiative im Europaparlament) sehr viele Erlebnisberichte von Betroffenen gesammelt und veröffentlicht. Und das Europaparlament hat in einer Resolution beklagt, dass die Parlamentsverwaltung nicht hinreichend auf solche Fälle reagiert.
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