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Viel Luft nach oben

Welthungerhilfe und »terre des hommes« präsentieren Bericht über die deutsche Entwicklungspolitik

Quantität und Qualität: Auf der Grundlage dieser beiden Kriterien wird die deutsche Entwicklungspolitik regelmäßig von der Welthungerhilfe und der Kinderhilfsorganisation »terre des hommes« einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen. So auch im Bericht »Kompass 2019. Zur Wirklichkeit der Entwicklungspolitik«, den die beiden selbst in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen Organisationen am Mittwoch in Berlin zum 26. Mal vorlegten.

Dass die Qualität von Entwicklungszusammenarbeit immer am Grad der Kohärenz, also einer abgestimmten Gesamtpolitik liegt, ist eine Binsenweisheit. Dass gegen diese teils krass verstoßen wird, leider auch. 249 Millionen Euro aus Mitteln der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) seien 2017 nach Jemen geflossen, gleichzeitig wurden in den vergangenen Jahren Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emiraten mit deutschen Rüstungsgütern im Wert von 6,5 Milliarden Dollar versorgt, die nachweislich zu guten Teilen in Jemen eingesetzt worden seien, monierte Albert Recknagel, Vorstandssprecher von »terre des hommes«.

Der Mangel an Kohärenz ist ein zentraler Kritikpunkt im Bericht. Eine weitere Forderung Richtung der Bundesregierung ist die nach entschiedenem Handeln. »Es hapert nicht an Resolutionen und Geldern, sondern an der Koordination, und dass die Gelder zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ausgegeben werden«, so Recknagel. Für Bildung hätte Entwicklungsminister Gerd Müller das Ziel ausgegeben, dass diesem Schlüsselsektor 25 Prozent des Etats des Entwicklungsministerium BMZ gewidmet werden sollten, real seien es zwölf Prozent.

Auch wenn der Mangel an zielgerichteter Koordination des Mitteleinsatzes ein Hauptkritikpunkt des Berichtes ist, wird auch die Mittelausstattung insgesamt kritisch betrachtet. Die deutsche ODA-Quote verfehlt erneut das 0,7-Prozent-Ziel und die Mittel für die Ärmsten der Armen entsprechen ebenfalls nicht den internationalen Verpflichtungen. »In den am wenigsten entwickelten Ländern sind Hunger und Armut besonders hoch, aber die Zuwendungen dorthin stagnieren seit Jahren. Wir fordern deshalb einen finanziellen Stufenplan für die kommenden Jahre, um die Lebensbedingungen von benachteiligten Familien insbesondere auf dem Land langfristig zu verbessern«, sagte Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe.

33 der 47 am wenigsten entwickelten Länder (LDC) liegen in Afrika. Für Privatinvestitionen seien die LDC nicht besonders attraktiv, deswegen müssten die ODA-Mittel verstärkt dorthin fließen. Die Bundesregierung hat sich im »Istanbul Programme of Action« dazu verpflichtet, 0,15 bis 0,2 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für die LDC auszugeben, derzeit sind es 0,11 Prozent: Statt 5 Milliarden Euro pro Jahr seien 2017 nur 3,6 Milliarden Euro geflossen, kritisierte Mogge.

Einerseits verfehlte die deutsche ODA-Quote mit 0,67 Prozent 2017 knapp das bereits 1972 als Selbstverpflichtung eingegangene 0,7-Prozent-Ziel und andererseits verdanken sie sich der Bilanzkosmetik: der zulässigen Anrechnung der Ausgaben für die Versorgung der Geflüchteten in Deutschland. Mit 5,37 Milliarden Euro machten sie 2017 ein Viertel der deutschen ODA aus. Auch zinsverbilligte Kredite an China oder Indien fließen in die ODA ein, weswegen unter den Hauptempfängerländern deutscher Entwicklungshilfe sich Schwellenländer wie Indien, China, die Türkei oder Mexiko befinden. So bekam Indien im Jahr 2017 aus Deutschland 1,1 Milliarden Dollar Entwicklungsgelder, China 710 Millionen Dollar. Auch die Türkei erhält viel Mittel, insbesondere wegen der Folgen der Syrien-Krise. Unter den Top-Zehn-Hauptempfängern deutscher Entwicklungsgelder befinde sich zudem mit Afghanistan nur ein wirkliches Entwicklungsland, kritisierte Mogge weiter.

Neben dieser Schwerpunktsetzung bereitet Mogge auch die Fokussierung der EU-Entwicklungspolitik inklusive Deutschlands auf die »Herkunfts- und Transitländer der Migranten« Unbehagen. »Wir sehen mit Sorge, dass die Entwicklungszusammenarbeit zunehmend mit der Rücknahme von Migranten gekoppelt wird«, sagte Mogge. Im Mittelpunkt des Handelns der Bundesregierung stünden nicht mehr die Länder, wo die Not am größten ist, sondern die Herkunftsstaaten der Flüchtlinge, »auch wenn es da sicherlich einige Schnittmengen gibt«, so Mogge. Der Fokus deutscher Entwicklungspolitik sollte aber auf der Hunger- und Armutsbekämpfung liegen.

Auch in der Afrikapolitik, der sich die Bundesregierung spätestens seit dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 verstärkt verschrieben hat, wird der Mangel an einer abgestimmten Politik kritisiert. Ob die gerade vom Bundeskabinett beschlossenen neuen Leitlinien für die Afrikapolitik daran was ändern, ist noch nicht ausgemacht, so Mogge. Bisher war keine Kohärenz festzustellen, stattdessen hätten Finanzministerium (Compact with Africa, d. Red.) und Wirtschaftsministerium (Pro!Africa-Initiative, d. Red.) eigene Afrikastrategiepapiere vorgelegt. Diese gesellen sich zum Marshallplan mit Afrika aus dem BMZ.

Ein weiterer Schwerpunkt im Kompass sind die Auswirkungen von Gewalt und Krieg auf Kinder: Jedes fünfte Kind weltweit ist von Konflikten betroffen. Im Jahr 2017 kam es zu 21 000 bekannten Kinderrechtsverletzungen aufgrund direkter gewaltsamer Auseinandersetzungen. »Angesichts der dramatischen Situation vieler Kinder und junger Menschen in Konfliktlagen braucht es ein größeres und vor allem entschiedenes Engagement der Bundesregierung«, fordert Albert Recknagel. Die Maßnahmen der Bundesregierung, beispielsweise in der Wiedereingliederung und Präventionsarbeit mit Kindersoldaten, sind nicht ausreichend: 1,06 Millionen Euro pro Jahr für 250 000 Kindersoldaten. »Kinder und Jugendliche sind die Zukunft für Gesellschaften, in denen Konflikte herrschen. Kinder und Jugendliche zu stärken, heißt die Gesellschaften als Ganzes von Grund auf zu stärken«, stellte Recknagel fest.

Welthungerhilfe und »terre des hommes« vermissen eine klare Vision und eine ambitionierte Politik der Bundesregierung in der Entwicklungszusammenarbeit und auch, dass sie sich nicht konsequent an internationalen Zusammenhängen orientiert: Weder an der Agenda 2030 der UNO zur nachhaltigen Entwicklung noch an der Agenda 2063 der Afrikanischen Union bei der deutschen Afrikapolitik. Es bleibt viel Luft nach oben.

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