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»Es braucht ein starkes Symbol«
40.000 Menschen demonstrierten in Berlin für bezahlbare Mieten / Proteste auch in zahlreichen anderen Städten
Langsam füllt sich an diesem Samstagmittag der Alexanderplatz mit Menschen. Renterinnen, Väter mit Kinderwagen, Studierende, Selbstständige und Arbeitnehmer – das Thema Wohnen verbindet sie alle. »Deutsche Wohnen und Co enteignen!«, schallt es aus einem Lautsprecherwagen über den Platz. »A-Anti-Anticapitalista« ruft die Menge zurück. Das Thema Wohnen sorgt zunehmend für Zusammenhalt zwischen den betroffenen Menschen und gleichzeitig für eine Radikalisierung der Debatte um steigende Immobilienpreise, Kündigungen von Klein-Gewerbetreibenden und den massiven Anstieg der Mietpreise über die Belastungsgrenze vieler Mieterinnen und Mieter hinaus.
Auch in anderen deutschen Städten gingen am Sonnabend Menschen gegen steigende Wohnkosten auf die Straße. In Leipzig sprachen die Veranstalter von 2000 Demonstranten, in Dresden von 500. In München demonstrierten nach Polizeiangaben etwa 300 Menschen - deutlich weniger, als von den Organisatoren erwartet. Aktionen gab es auch in Stuttgart, Freiburg, Heidelberg und Mannheim. In der Bankenstadt Frankfurt beteiligten sich 150 Demonstranten, in Hannover und Göttingen waren es jeweils 70 bis 80 Teilnehmer.
So viele Protestierende wie in Berlin fanden sich sonst nirgendwo zusammen. »Wir sind schon über 35.000!«, dröhnt es aus den Lautsprechern am Alexanderplatz. Jubel brandet auf. Thomas McGath freut sich. Er hält eine Unterschriftenliste »Deutsche Wohnen & Co enteignen« in der Hand und bittet Passanten zu unterschreiben. Viel fragen und erklären muss er nicht; teilweise stehen die Menschen Schlange, um sich in die Liste einzutragen.
Existenzielle Angst
»Berlin ist eine sehr lustvolle Stadt, aber irgendwann habe ich tatsächlich existenzielle Angst bekommen«, berichtet McGath. »Sechs Monate habe ich in Berlin keine Wohnung gefunden, die ich mir leisten konnte.« McGath beteiligt sich jetzt an der Initiative für die Enteignung großer Immobilienkonzerne mit mehr als 3000 Wohnungen in der Stadt. Ursprünglich kommt er aus Washington DC, wohnt seit sechs Jahren in Berlin. »Ein Zufluchtsort«, wie er sagt. »In den USA ist es teilweise viel schlimmer mit den Mietpreisen. New York ist unbezahlbar und in Washington DC habe ich keine Wohnung unter 15 Dollar pro Quadratmeter finden können.«
Hinter ein paar Tapeziertischen mit Unterschriftenlisten steht auch Rouzbeh Taheri, Sprecher der Kampagne für eine Enteignung Deutscher Wohnen und Co. Er holt sich umständlich eine Zigarette heraus, rückt die Sonnenbrille zurecht und lächelt in die Sonne: »Eigentlich müsste ich müde sein«, sagt er, »aber gerade bin ich total aufgeputscht. Heute ist ein erster Höhepunkt der Kampagne.« Sechs Monate haben er und seine knapp 80 ehrenamtlichen Mitstreiter an Texten gefeilt, rechtlichen Rat eingeholt, Plakate und Listen designt und Öffentlichkeitsarbeit betrieben. »Das heute gibt total viel Energie«, meint Taheri.
Halb zwei setzt sich die Demonstration langsam Richtung Friedrichshain in Bewegung. Die Polizei spricht von weit über 10.000 Teilnehmern, die Veranstalter von 40.000. Beide Spuren der Karl-Marx-Allee sind von der Polizei abgesperrt, vom Alexanderplatz bis zur Weberwiese zieht sich der Demozug. Vorbei an den vom Bezirk zurückgekauften und in den Besitz der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft WBM überführten Häusern zwischen Weberwiese und Frankfurter Tor. Die Mieter haben rote Tücher aus den Fenstern gehängt.
Erst Modernisierung, dann Abriss
»Erst wollte der neue Besitzer, die Arcadia Estates, meine Wohnung modernisieren und die Miete verdoppeln. Dann haben sie mir zu Ende April dieses Jahres gekündigt, weil sie das Haus abreißen wollten«, erzählt eine Rentnerin, die ihren Namen aber aus Angst vor Einbrüchen nicht nennen will. Mittlerweile wohne sie nämlich allein in ihrem Aufgang, sagt die Frau, die früher in der Charité gearbeitet hat. Seit 35 Jahren wohne sie in dem Haus in der Habersaathstraße direkt neben dem neuen BND-Komplex in Berlin-Mitte.
»Ich habe Angst, kann nicht mehr frei denken. Von morgens bis Abends begleitet mich die Sorge um meine Wohnung.« Zwar habe der Bezirk den Abriss erst einmal gestoppt, aber sie wisse nicht, was weiter passiert. Die Eigentümer hätten leerstehende Wohnungen tageweise vermietet und würden das Haus verkommen lassen, um so die restlichen Mieter rauszubekommen. »Von ehemals 106 Wohnungen in unserem Block sind nur noch 20 bewohnt«, sagt sie.
»Kiezkommunen aufbauen!«, steht auf einem Transparent, auf der Demo getragen wird. »Töte den Investor in Dir!«, ist auf einem anderen zu lesen. Seit Pensionsfonds in ihren Portfolios verstärkt auf Immobilien setzen, profitiert jeder, der über eine fondsgebundene Altersvorsorge bzw. Riesterrente verfügt, direkt von Profitsteigerungen der Immobilienkonzerne und fördert dadurch deren Profitstreben.
»Schützt das Kleingemüse«, steht auf einem weiteren Transparent des Daks-Berlin, der 800 Kinderläden und Kitas in Berlin vertritt. Geschäftsführer Roland Kern berichtet, dass in den letzten drei Jahren 70 Kinderläden vor dem Aus standen, weil entweder der Vertrag auslief oder zu hohe Mietsteigerungen gefordert wurden. »Die meisten Läden haben Gewerbemietverträge, da gibt es keinen Mieterschutz. Gerade diese Woche haben sich schon wieder drei Läden bei uns gemeldet, die von massiven Mietsteigerungen betroffen sind«, so Kern.
»Es ist Zeit für eine radikale Lösung«, glaubt Rouzbeh Taheri und blickt optimistisch auf den Ausgang des Volksbegehrens. »Die Enteignung der Deutschen Wohnen löst nicht alle Probleme, aber sie ist ein gutes Symbol. Es braucht ein starkes Symbol, um Missstände deutlich zu machen«, so Taheri.
Vor dem Gelände der Arena in Kreuzberg angekommen, verteilen sich die Teilnehmer der Demonstration auf der Straße und im nahe gelegenen Park, wo sie sich mit den dort grillenden Familien mischen. Aus den Lautsprechern klingt das verzerrte Cello der Band »Guts Pie Earshot«. Einige Teilnehmer tanzen, Gruppen junger Leute lassen sich auf dem Asphalt nieder und holen Bierflaschen raus. Die Mieterbewegung wächst weiter und stellt – so wie die Schüler bei Fridays for Future – die drängenden gesellschaftlichen Fragen klar und zunehmend vehement. mit dpa
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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