- Kommentare
- Venezuela
Im Fadenkreuz
Die Lage Venezuelas vor dem Hintergrund geopolitischer Auseinandersetzungen
In einer Situation der sich täglich verschlechternden Lage der Bevölkerung, der Verschärfung der Sanktionen gegen die Maduro-Regierung und der hausgemachten Fehler der Regierungen Venezuelas verschärft sich die Auseinandersetzung im erdölreichen Venezuela. Offen drohen die Maduro- Gegner in der »Lima-Gruppe«1, in der die Organization of American States (OAS) und in den USA mit einer »humanitären Intervention«. Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die sich offen an die Seite der USA stellten, mischen sich völkerrechtswidrig in die inneren Angelegenheiten des Landes ein. Inzwischen erklärte Guaidó, dass er eine militärische Intervention seitens der USA befürwortet. Diese Offensive gegen einen schwachen Präsidenten Maduro, dessen soziale Basis schrumpft und der sich auf das Militär stützt, soll den Regimewechsel forcieren. Guaidó wurde für diese Rolle aufgebaut. Er ist Vertreter einer Mitte-links-Partei, der Voluntad Popular (»Volkswille«). Mit seinen Besuchen in Washington, Brasília und Bogotá wurde dieser Putsch vorbereitet. Ein besonders aktiver Unterstützer ist der rechte Präsident Brasiliens, Bolsonaro, dessen Militärs jedoch eine Intervention ablehnen. Nach Angaben der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Venezuelas seit 2013 um 44 Prozent. Die Inflationsrate stieg seit November 2017 monatlich um zirka 50 Prozent. Die nationale Währung wurde um 200 Prozent abgewertet. Im Verlaufe der letzten vier Jahre ging die Erdölproduktion um 50 Prozent zurück. Zu verzeichnen sind sinkende Importe (um 26 Prozent). Für das Jahr 2019 wird mit einer Verringerung des BIP um zehn Prozent gerechnet. Neuere Zahlen besagen, dass ein Drittel der Haushalte arm ist; 52 Prozent der Unternehmen, die 2001 registriert wurden, haben geschlossen. Die Arbeitslosenzahl erhöhte sich auf 2,8 Millionen im Jahr 2017. Die destabilisierte Wirtschaft führte zu einer Hyperinflation, zu wirtschaftlicher Depression und mangelhafter Versorgung der Bevölkerung. Nach Angaben der Zentralbank Venezuelas stiegen die Preise für Lebensmittel um 70 Prozent. 40 Prozent der von der Regierung subventionierten Waren verschwinden im Schwarzhandel und werden im Ausland verkauft. Venezuela ist mit 220 Milliarden US-Dollar verschuldet. Diese »humanitäre Katastrophe« ist mit diesen Sanktionen weitgehend vorbereitet worden und dient nun zur Rechtfertigung neuer Sanktionen und offener Drohungen.
Erdölland Venezuela
Der hier veröffentlichte Text stammt aus Ausgabe 150 der Zeitschrift »WeltTrends«. Schwerpunkt der Ausgabe ist Venezuela. Laut WeltTrends geht dort »das ›sozialistische Experiment‹ offenbar seinem Ende entgegen.
Dem ›Fluch des schwarzen Goldes‹ entging auch Hugo Chávez nicht. Unter ihm und seinem Nachfolger Nicolás Maduro blieb das Land trotz revolutionärer Rhetorik bei der traditionellen Rentenökonomie. Wieder steht es nun vor einer großen Entscheidung.«
Der Verfasser des Textes ist Achim Wahl, 1936 geborener Politikwissenschaftler und Lateinamerikanist. Er hat viele Jahre in Lateinamerika gelebt.
Weitere Themen der Ausgabe sind die Wahlen in Schweden und der DR Kongo sowie die Tragödie der Rohingya.
Venezuela verfügt mit ca. 300 Milliarden Barrel Erdöl über 20 Prozent der Weltreserven. Die Gasvorräte werden auf rund 147 Milliarden Kubikmeter geschätzt. Goldvorkommen werden mit einem Handelswert von ca. 200 Milliarden US-Dollar und Eisenerzvorkommen mit 180 Milliarden US-Dollar beziffert. Nach der Verfassung Venezuelas von 1999 hat die Erdölgesellschaft PDVSA (1975 verstaatlicht) exklusive Rechte an der Förderung des Erdöls und Erdgases. Die Aktienmehrheit liegt in staatlicher Hand. 1986 erwarb die PDVSA das US-amerikanische Unternehmen Citgo in Dallas (Texas) zu 100 Prozent. Die Citgo besitzt acht Raffinerien und 6000 Tankstellen in den USA. Im Februar 2007 wurden per Dekret alle ausländischen Ölunternehmen verstaatlicht und mit ihnen Join-Ventures abgeschlossen, in denen der Staat die Kapitalmehrheit hat. ExxonMobil und ConocoPhillips lehnten ab. Die USA blieben mit 65 Prozent des Ölexportes Venezuelas wichtigster Handelspartner. Verändert wurde durch die Regierung Chávez die Gewinnverteilung: 64 Prozent verblieben bei der PDVSA und 35 Prozent gingen an die Regierung. Die PVDSA wurde als Regierungsinstrument zum Träger umfangreicher Sozialprogramme. Zwischen 2004 und 2010 gab die PDVSA 61,4 Milliarden US-Dollar für Sozialprogramme aus. Großzügig wurden im Rahmen der Petrocaribe (Zusammenschluss mittelamerikanischer Länder mit Venezuela) Kredite mit 15-jähriger Laufzeit zu zwei Prozent Zinsen vergeben. Der Benzinpreis wird subventioniert (ein Liter kostet 0,01 US-Dollar), wodurch dem Staatshaushalt jährlich ca. 6 Milliarden US-Dollar verloren gehen. Der venezolanische Staat existiert auf der Basis der Erdölrente. 70 Prozent des BIP werden durch den Privatsektor realisiert. Somit besteht eine Mischung aus Staatskapitalismus und Privatkapital. Präsident Chávez strebte eine Allianz mit nationalen Unternehmern an, was den bolivarianischen Prozess heterogen gestaltete. Teile der Regierung und ihr nahestehende Kreise realisieren eigenständig Privatgeschäfte, wodurch sich eine »Bolibourgeoisie« (aus bolivarisch und Bourgeoisie) herausbildete, die Teil eines Korruptionssystems ist. Nach Schätzungen sind in fünf Jahren 300 Milliarden US-Dollar illegal aus dem Land geflossen. Das diskreditiert den bolivarianischen Prozess und ist zusammen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten Ursache der aktuellen Situation.
Venezuela und die OPEC
Infolge der Ölkrise der 1970er-Jahre entstand 1960 die OPEC, auf die heute 60 Prozent der weltweit geförderten Ölmenge kommen. Venezuela gehört zu den Gründern des Kartells. Seit Ende 2018 hat Venezuela die Präsidentschaft der OPEC. Das Ziel Venezuelas ist es, Einfluss auf die Preispolitik und auf Förderquoten zu nehmen. Mit der Entwicklung der Fracking-Technik in den USA kam es zu einem Erdölboom und der Stärkung des US-Ölmarktes. Die OPEC beschloss deshalb, keine Einschränkung der Förderquoten (33 Millionen Barrel pro Tag) vorzunehmen. Der verstärkte Konkurrenzkampf führte zum Preisabfall von 100 auf rund 40 US-Dollar pro Barrel. Die USA hoben ihr Gesetz des Erdölexportverbotes auf. Erschwerend wirken sich auch die Aufkündigung des Iran-Deals durch die USA und der beginnende Handelskrieg der USA mit China aus. Die Erdölreserven Venezuelas und die Pre-Salt-Vorkommen Brasiliens, die nach dem Wahlsieg Bolsonaros leichter zugänglich sein werden, sind für die USA von strategischer Bedeutung. Die USA benötigen von 98 Millionen Barrel pro Tag weltweiten Verbrauchs selbst 19,2 Prozent. Sie sind trotz Eigenproduktion auf Importe angewiesen, die bei 53 Prozent ihres Verbrauchs liegen. Mit den Sanktionen versuchen die USA, Venezuela im Erdölmarkt zu isolieren und sich die Naturressourcen und das Erdöl zu sichern.
Die Sanktionspolitik der USA
Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und Venezuela unter Präsident Chávez begannen schon unter US-Präsident Obama. Im Dezember 2008 erließ er die ersten Sanktionen, etwa Kontensperrungen für venezolanische Minister und Visumbeschränkungen. Präsident Trump verschärfte sie 2017: Verbot von Transaktionen der PDVSA, von Überweisungen der Citgo nach Venezuela, der Realisierung von Geschäften mit der PDVSA und des Handels mit der venezolanischen Währung und der Kryptowährung Petro. Im Gegenzug wies Präsident Maduro den US-Geschäftsträger aus und brach im Januar 2018 die diplomatischen Beziehungen ab. Nach der Selbstproklamation Guaidós kam es zu weiteren US-Sanktionen, vor allem die Blockierung des Eigentums von PDVSA / Citgo in den USA. Die Erlöse aus dem Export von täglich 600 000 Barrel Erdöl in die USA, die einen Jahresumsatz von 11 Milliarden Dollar ausmachen, müssen auf ein Sperrkonto einbezahlt werden. Das sind 75 bis 80 Prozent der Deviseneinnahmen des Unternehmens. Den Zugriff hat nur der selbsternannte Präsident Guaidó. Die volkswirtschaftlichen Verluste der Sanktionen belaufen sich nach Angaben des Centro Estratégico Latinoamericano de Geopolítica (CELAG) auf 350 Milliarden US-Dollar zwischen 2013 und 2018. Die Folgen der Sanktionen für die Bevölkerung sind dramatisch, da die Regierung kaum Importe realisieren kann. Mit der Ernennung von Elliott Abrams zum US-Beauftragten für Venezuela tritt eine Person in Erscheinung, die sich in Putschangelegenheiten in Lateinamerika auskennt. Er passt in das Konzept der psychologischen Kriegsführung des US-Sicherheitssekretärs John Bolton, der im Fernsehsender Fox News meinte, dass »es schon einen Unterschied machen [würde], wenn wir amerikanische Unternehmen das Öl in Venezuela produzieren lassen könnten. Es wäre gut für Venezuela und das Volk der Vereinigten Staaten.« Der Versuch, »humanitäre Hilfe« über die Grenzen Kolumbiens und Brasiliens zu bringen, scheiterte als politische Provokation, wie auch der Versuch des US-Vizepräsidenten Pence in Bogotá, die Lima-Gruppe zu einer militärischen Option zu veranlassen. Die Auseinandersetzungen um die Macht in Venezuela sind vorerst verschoben. Eine friedliche Lösung ist nur über Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition möglich.
China und Russland in Venezuela
Mit der Übernahme der Präsidentschaft durch Hugo Chávez wurde die Zusammenarbeit Venezuelas mit China und Russland ausgebaut. Chinas Investitionen liegen bei 50 bis 60 Milliarden US-Dollar, Russlands bei 30 Milliarden. Beide Länder engagieren sich in der Erdölindustrie, im Bergbau, bei der Industrieentwicklung, der Infrastruktur und im Aufbau des Kommunikationswesens (Telekommunikationssatelliten). Die Rückzahlung der Kredite erfolgt durch Erdölexporte. China setzte wegen Korruptionsfällen und Misswirtschaft zeitweilig einige Projekte aus, rekrutiert aber Personal aus den 500 000 in Venezuela lebenden Chinesen. Seit der Aufkündigung der militärischen Zusammenarbeit mit den USA 2005 verstärkte Russland die Kooperation mit Venezuela. Mit einem 2009 gewährten Kredit von 2,2 Milliarden US-Dollar kaufte Venezuela Panzer, Luftabwehrraketen, Kampfflugzeuge und 100 000 Handfeuerwaffen. Es kam zu gemeinsamen Land- und Seemanövern. Sowohl China als auch Russland sehen in der Zusammenarbeit Möglichkeiten zur Sicherung der Unabhängigkeit Venezuelas. Russland als Nichtmitglied der OPEC stützt Venezuela, da beide Seiten an einer Ölpreissicherung interessiert sind. China baut die Zusammenarbeit im Interesse seiner Rohstoffimporte aus. Beide treten im UN-Sicherheitsrat für die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Venezuelas ein. Gemeinsam mit einigen Staaten Lateinamerikas, wie Uruguay, Bolivien, Mexiko, sowie weiteren 50 Mitgliedstaaten der UNO treten sie für eine friedliche Konfliktlösung ein. Der Konflikt zwischen der Maduro-Regierung und der Opposition spiegelt auch die geopolitische Auseinandersetzung zwischen den USA, China und Russland wider. Die Trump-Administration will an Venezuela ein Exempel statuieren und ein Signal an China und Russland aussenden, dass Lateinamerika (weiterhin) die Einflusssphäre der USA ist.
Abgeschlossen am 28. Februar 2019.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.