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Gesundheit für alle
Eine Kinderarztpraxis in Neukölln will eine neue Art der Versorgung wagen
»Neukölln wurde regelrecht ausgeblutet«, meint Lothar Müller. »Selbst mit zehn neuen Kinderärzten wäre der Bedarf hier nicht zu decken.« Müller war zuletzt leitender Oberarzt in der Immanuel-Klinik in Bernau, seit Montag empfängt der freundliche Mittvierziger in der neu eröffneten Kinderarztpraxis in der Neuköllner Rollbergstraße kleine Patient*innen. Der Kinderarzt ist froh, dass er nach halbjährlicher Wartezeit nun endlich die Zulassung für den Rollbergkiez bekommen hat.
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) betrachtet Berlin als einen einzigen »Planungsraum«, in dem die Gesamtzahl von 324 zugelassenen Praxissitzen seit Jahren nicht erhöht wird. Dass die Lebensbedingungen in den einzelnen Stadtteilen weit auseinanderklaffen, spielt keine Rolle. Immerhin ist es seit rund fünf Jahren nicht mehr erlaubt, mit einer Kassenzulassung aus einem ärztlich schlecht versorgten Bezirk in einen besser versorgten umzuziehen.
Neukölln wird auf absehbare Zeit ein unterversorgter Kiez bleiben: Allein die weiten Wege zwischen den hier niedergelassenen Kinderärzt*innen sind kaum zumutbar, viele nehmen keine neuen Patient*innen mehr auf. Der Bedarf ist riesig. Dazu komme, so Müller, die sozio-ökonomische Situation vieler Menschen hier: Armut und Prekarität, die große Angst vor Gentrifizierung, Mieterhöhung und Wohnungsverlust, viele hätten mit bürokratischen Hürden zu kämpfen, es gibt nicht genügend Kindergartenplätze - alles Probleme, sagt Müller, »die die Menschen wirklich krank machen«.
Diese sogenannten sozialen Determinanten von Gesundheit sind es auch, an die sich Zahlen aus Neukölln wie diese rückkoppeln lassen: eine um zehn Jahre geringeres Lebenserwartung als in bürgerlichen Stadtteilen, erhöhte Säuglingssterblichkeit, erhöhte Erkrankungen an Adipositas (starkes Übergewicht).
Blick auf die Gesundheit aller
»Warum leben die Reichen zehn Jahre länger?«, fragte unlängst auch ein Hamburger Kollektiv aus zugelassenen Ärzt*innen und juristischen Sozialberater*innen, das seit nunmehr zwei Jahren auf der sozial und gesundheitlich ähnlich schlecht versorgten Hamburger Halbinsel Veddel ein Gesundheitszentrum mit dem Namen »Poliklinik« betreibt - mit großem Erfolg und aus gutem Grund gleichlautend mit den staatlichen Gesundheitszentren der DDR.
Das Konzept verbindet eine kieznahe Versorgung, die nach den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen fragt, mit »Interprofessionalität«: Unterschiedliche Berufsgruppen arbeiten gemeinsam unter einem Dach, die Wege sind kurz. Das kommt nicht nur bei der Bevölkerung auf der Veddel gut an.
Auch die Gesundheitspolitik interessiert sich immer mehr für solche Herangehensweisen, hinter denen nicht zuletzt die Idee von »Public Health« steht - einer Versorgung, bei der nicht die Gesundheit des einzelnen, sondern die aller Menschen im Mittelpunkt steht. Prävention, Beratung und Gesundheitsförderung sind dabei elementare Bestandteile. Nur ob sie in einem sinnvollen Zusammenhang mit dem Alltag der Menschen stehen, die sie erreichen sollen, ist nicht immer ausgemacht.
Lothar Müller engagiert sich ebenfalls in einem gesundheitspolitischen Zusammenhang. Das »Gesundheitskollektiv Berlin« bietet seit drei Jahren Beratung auf öffentlichen Plätzen, in Kindergärten, Vereinen und auf Anfrage an - vor allem im Stadtteil Neukölln. Die etwa 25 Aktiven wollen im nächsten Jahr, spätestens aber 2021, im Rollbergkiez ein Stadtteilgesundheitszentrum, ähnlich der »Poliklinik«, eröffnen. In Zusammenarbeit mit ein bis zwei Kinderärzt*innen, Allgemeinmediziner*innen und Psychotherapeut*innen, soll es angebunden sein an das Angebot von Sozial-, Rechts- und Fallberatung. Eine partizipative Forschung mit Patient*innen- und Kiezumfragen soll den Bedarf ständig überprüfen.
Koordination und Finanzierungsplanung sind gut angelaufen. Ob sich das Vorhaben finanziell trägt, wird sich zeigen. Auch Lothar Müller will mit der »Berghafenpraxis« zunächst einmal »Fleisch auf die Knochen bringen«. Bei seiner neuen Arbeit im Kiez unterstützen ihn drei Mitarbeiter*innen. Drei Nachmittage in der Woche gibt es nun eine gemeinschaftlich orientierte ambulante Versorgung. Die derzeit vorherrschende Versorgung kritisiert der Kinderarzt als »viel zu arztzentriert«: »Wir müssen raus aus dieser Vereinzelung.«
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