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Berlin: Abstrampeln für Sichtbarkeit und Gleichberechtigung

Fahrraddemonstration für lesbisches und queeres Lebens – damals wie heute

  • Leonie Hertig
  • Lesedauer: 6 Min.
Radelnde, bunte Demonstration am Samstag
Radelnde, bunte Demonstration am Samstag

»Ich fühle momentan viel Wut. Aber aus Wut wird Mut«, sagt Annet, bevor es losgeht, zu den jungen queeren Menschen und den alten Hasen. Am Startpunkt im Berliner Ortsteil Schöneberg flattern verschiedenste Regenbogen im Wind. Annet hat die Fahrraddemonstration anlässlich des internationalen Tages der lesbischen Sichtbarkeit mitorganisiert.

Über das Megaphon kritisiert sie: »Immer noch haben wir keinen Diskriminierungsschutz. Wir wollen keine Sonderrechte, wir wollen die gleichen Rechte.« Noch immer fehle der spezifische Schutz queerer Menschen im Grundgesetz und die Gleichberechtigung von gleichgeschlechtlichen Eltern. In einer gleichgeschlechtlichen Beziehung erlangt nur der biologische Elternteil den entsprechenden rechtlichen Status. Die Partner*in kann per Adoption den Elternstatus erlangen. »Warum muss in einer lesbischen Beziehung die Ko-Mutter ihr Kind adoptieren?«, fragt Annet. Eine Nachbesserung der Rechtslage würde auch den Schutz des Kindes verbessern. »Wenn die Geburtsmutter stirbt, hat die zweite Mutter keinen Anspruch auf das Kind«, kritisiert Anett.

Das Thema Elternschaft frustriert auch Maria und ihre Partner*in, die beide an der Demo teilnehmen. »Man kann sich nicht darauf verlassen, dass der Adoptionsprozess funktioniert«, sagt Maria. Der biologische Vater, auch wenn er nur der Samenspender sei, müsse dem Prozess zustimmen und könne Kontakt mit dem Kind einfordern.

Doch selbst nach erfolgreicher Adoption können die neuen Eltern Diskriminierung erfahren. Ange ist Teil einer Regenbogenfamilie und hat mit ihrer Frau zusammen einen Sohn. Im Gespräch mit »nd« erzählt sie von unzähligen Mikroaggressionen: »Ich und meine Frau werden regelmäßig gefragt, wer denn die ›richtige‹ Mutter ist. Das impliziert doch, dass die andere die Falsche ist.« Ihr Sohn habe schon mit drei Jahren angefangen, auf diese Frage zu antworten, dass beide seine richtigen Mütter seien.

Sabine, die in einem Liegerad sitzt und eine Mütze mit der Aufschrift »Here to change the game« trägt, erklärt »nd«, dass sie schon in den 70er Jahren Teil der Frauenbewegung gewesen sei: »Wir mussten für unsere Rechte extrem kämpfen. Wir haben viel erreicht«, sagt sie. Aber viele dieser Rechte seien jetzt wieder bedroht, zum Beispiel durch die AfD. »Aber um ehrlich zu sein«, sagt Sabine, »habe ich die gleiche Angst vor Merz, gerade bei Frauenthemen.«

Vielen Teilnehmer*innen der Fahrraddemo geht es ähnlich. Auch sie beunruhigt der Rechtsruck und die Polarisierung in der Gesellschaft. Naana findet besonders die Kürzungen finanzieller Zuwendungen besorgniserregend, etwa im Bildungsbereich. »Es gibt jetzt schon so wenig Treffpunkte und Beratungsmöglichkeiten. Was passiert, wenn die auch wegbrechen?« Unter queeren Jugendlichen sei die Suizidrate viel höher als unter heterosexuellen Menschen.

Am Tag der lesbischen Sichtbarkeit spricht Naana davon, dass andere als die heterosexuelle Lebensform immer mehr untergehen würden und immer häufiger angegriffen würden. »Der Rechtsruck zeigt sich ganz stark.« Naana erklärt, dass die Rechte von queeren Menschen ein Maßstab dafür seien, wie es um die Menschenrechte in Deutschland steht.

Charlotte Kaiser arbeitet bei dem Verein L-Support, einem lesbischen* und queeren Anti-Gewalt Projekt. Im Gespräch mit »nd« erzählt sie, dass sich die Nachfrage nach dem Beratungsangebot von L-Support im vergangenen Jahr mehr als vervierfacht habe. 2023 habe sich die Zahl der an L-Support gemeldeten Gewaltfälle gegen lesbische* und queere Menschen auf 80 erhöht. 2024 sei die Zahl konstant geblieben. Das ist an sich bemerkenswert – so ist der Verein doch klein und sammelt Meldungen nur am Wochenende für zwei Stunden pro Tag über ein Onlineformular. »Der Anstieg unterstreicht die Wichtigkeit von Präventions- und Bildungsarbeit und zeigt umso mehr wie inakzeptabel die Kürzungen im queeren Bildungsbereich sind«, sagt Kaiser.

Naana besorgt der Anstieg der an L-Support gemeldeten Vorfälle, denn die Hilfsmöglichkeiten seien nicht allen bekannt. Sie nehme deshalb ganz stark an, dass die Dunkelziffer hoch sei. »Daneben werden die sogenannten kleinen Vorfälle, zum Beispiel dumme Sprüche, Rempeleien, Witze, Sticheleien, Stinkefinger zeigen, oft gar nicht erst gemeldet, sondern von vielen fast schon als normal hingenommen«, sagt Naana.

Die Demonstration fordert auch die Anerkennung der Schicksale der Vergangenheit. Der erste Stopp führt die Fahrradtour zur Gedenkstätte T4. Mit dem Begriff Aktion T4 werden die »Euthanasie-Morde« und die »Gnadenmorde« in der NS-Zeit bezeichnet. Unter der Leitung der Zentraldienststelle T4 in der Tiergartenstraße 4 wurden 1940 und 1941 mehr als 70 000 Menschen ermordet. Ihr Leben war basierend auf medizinischen Fragebögen als nicht »wertvoll« eingestuft worden. Unter ihnen Menschen mit psychischen und nervlichen Erkrankungen wie Epilepsie, Demenz oder Schizophrenie. Menschen, die seit mehr als fünf Jahren in Heil- und Pflegeanstalten waren oder in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten beschäftigt werden konnten.

Annet erklärt »nd«, warum die Gedenkstätte als Halt ausgewählt wurde: »Am 5. Mai ist der europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Wo kommen jemals lesbische* behinderte Menschen vor?« Annet sei ihren Worten zufolge selbst zu 50 Prozent »schwer in Ordnung«, hätte aber unter den Faschisten als lesbische, nicht-binäre Person mit einem Behinderungsgrad und mit Depression die Kriterien der T4 erfüllt. Denn allein lesbisch zu sein, konnte zu der Diagnose »asozial« führen. So wird etwa auch Mary Pünjer am T4-Denkmal gedacht. Pünjer soll mehrmals Lokale für lesbische Frauen aufgesucht haben und wurde 1942 im KZ-Ravensbrück getötet.

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Ein weiterer Stopp der Demonstration ist die Gedenktafel für Hilde Radusch. Sie gründete als Kommunistin den Roten Frauen- und Mädchenverbund und eröffnete mit ihrer Lebensgefährtin einen Mittagstisch für verfolgte Jüd*innen und ausländische Zwangsarbeitende. 1944 mussten sie und ihre Lebenspartnerin untertauchen. Ihr Tagebuch gibt ein Einblick über das Leben in der NS-Zeit und im Untergrund. Hilde Radusch erklärte regelmäßig: »Ich habe mich nie als Frau gefühlt – aber frag mich nicht, als was sonst.« Ihr Gedicht »Mein Recht«, schwingt weiter in den Forderungen der Teilnehmer*innen mit: »Wenn ich schon anders / als die Anderen bin – / wen geht’s was an?/Hab ich damit schon irgendwem / Böses getan?/ Ihr braucht für Eure Ellenbogen / So viel Platz! / Ich will ja nur mein Menschenrecht, / das Recht auf meinen Schatz!«

»Welche Nachteile haben heterosexuelle Menschen, wenn queere Menschen vom Grundgesetz geschützt werden?«

Annet Mitorganisatorin der Fahrraddemonstration

Oder wie Annet im Gespräch mit »nd« sagt: »Welche Nachteile haben heterosexuelle Menschen, wenn queere Menschen vom Grundgesetz geschützt werden? Ihr regt euch auf, aber ihr habt doch keine Nachteile.«

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