Journalistin stirbt zwischen den Fronten

Die Polizei im nordirischen Derry lässt zwei der festgenommenen Verdächtigen wieder frei

  • Dieter Reinisch, Belfast
  • Lesedauer: 4 Min.

Donnerstagnacht starb die 29-jährige Journalistin und LGBT-Aktivistin Lyra McKee durch eine Kugel der »Neuen IRA« in Derry. Während Ausschreitungen zwischen Jugendlichen und der Polizei eröffnete ein Mitglied der »Neuen IRA« das Feuer. McKee stand neben einem der gepanzerten Polizeiwägen und wurde dabei von einem Blindgänger am Hals getroffen. Sie verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.

21 Jahre nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens, das einen Schlussstrich unter den blutigen Nordirlandkonflikt ziehen sollte, gehören Zusammenstöße von Einwohnern mit der Polizei zum Stadtbild Derrys. Die Stadt ist eine Hochburg radikaler Republikaner.

Erst im Januar zündete die »Neue IRA« dort eine Autobombe vor dem Gerichtsgebäude. Für Ostermontag hatte ihr politischer Arm »Saoradh« eine Parade durch die Stadt geplant. Ostern ist das wichtigste Datum im irisch-republikanischen Kalender. Zu Ostern 1916 wurde in Dublin die unabhängige Republik ausgerufen.

Bereits im letzten Jahr war es bei dem Osteraufmarsch in Derry zu Zusammenstößen zwischen Einwohnern und Polizei gekommen. Ähnliches war für dieses Jahr zu erwarten. Die Organisatoren des Marsches hatten in Presseaussendungen bereits davor gewarnt.

Wenig überraschend kam es daher am Gründonnerstag zu Hausdurchsuchungen. Dabei ging die Polizei mit besonderer Aggressivität vor. Bereits am Vortag hatten Einwohner ein Polizeifahrzeug mit Brandsätzen beworfen. Am Donnerstag kam es schließlich zu stundenlangen Zusammenstößen zwischen Einwohnern des irisch-nationalistischen Stadtteils Creggan und der Polizei.

Dabei wurden zwei Fahrzeuge gestohlen und an strategischen Punkten als Barrieren in Brand gesetzt. Die Polizei konnte so das Gebiet nicht betreten. Die hunderte, zumeist jugendlichen Protestierenden warfen meht als 50 Brandsätze auf die Polizei.

Gegen 23 Uhr Ortszeit feuerte ein Maskierter etwa zehn Schüsse in Richtung der Polizeifahrzeuge. Die Journalistin Lyra McKee stand hinter der Polizeilinie und wurde von einem Blindschläger tödlich am Hals getroffen. Einwohner, darunter Mitglieder der republikanischen Gefangenenhilfsorganisation Cogús, leisteten erste Hilfe.

Der Stadtteil Creggan ist eines der ärmsten Gebiete Westeuropas. Durch den Friedensprozess hat sich die soziale Lage der Einwohner nicht gebessert. In einer aktuellen Umfrage erklärten 95% der Jugendlichen, dass sie in der Stadt keine Zukunft sehen würden. Zwei Drittel der Kinder wachsen in Creggan in Armut auf und Price Waterhouse Coopers weist Creggan als das ärmste Gebiet Großbritanniens aus.

In diesem Klima radikalisieren sich Jugendliche, die selbst den Nordirlandkonflikt nicht miterlebt haben. Derry ist eine Hochburg der »Neuen IRA«. Diese offiziell 2012 entstandene paramilitärische Organisation setzt sich aus durch Perspektivlosigkeit radikalisierte Jugendliche und desillusionierte Veteranen der IRA zusammen.

Auf einem Video des Attentats sind zwei vermummte, junge Männer zu sehen. Einer feuerte rund zehn Schüsse mit einer nichtautomatischen Waffe ab, der Zweite sammelte die Patronenhülsen ein. Beide verhalten sich ruhig und kontrolliert.

Nach dem Tod der Journalistin hat die Polizei zwei Festgenommene wieder freigelassen. Anschuldigungen gegen die 18 und 19 Jahre alten Männer wurden nicht erhoben, wie die nordirische Polizei am Sonntag mitteilte. Die jungen Männer waren auf der Grundlage von Anti-Terror-Gesetzen in Derry festgenommen und zum Verhör auf eine Polizeiwache in Belfast gebracht worden.

Der politische Arm der »Neuen IRA«, »Saoradh«, hatte seinen für Montag geplanten Marsch in Derry aus Respekt vor der Familie von McKee abgesagt. Am Samstag nahmen an der größten Parade von »Saoradh« 500 Personen in Dublin teil. Diese wurden von rund 40 Personen in olivgrünen Militäruniformen und Sonnenbrillen angeführt.

Der Hauptredner, der prominente Belfaster Republikaner Dee Fennell, forderte die »Neue IRA« auf, sich für den Tod von McKee bei ihrer Familie öffentlich zu entschuldigen. Der Parteivorsitzende Brian Kenna sieht die Schuld am Tod bei der Polizei: »Ohne den aggressiven Polizeieinsatz wäre es niemals zu den Ausschreitungen gekommen.«

Von der »Neuen IRA« liegt bisher noch keine Stellungnahmen vor. Der Tod von Lyra McKee war ein tragischer Fehler der Organisation. Eine Abkehr vom bewaffneten Kampf ist nicht zu erwarten. Ob sich die derzeitige Wut am Tod der Journalistin jedoch in einer langfristigen Abkehr der Einwohner von Creggan von der »Neuen IRA« manifestiert, wird auch von ihrer zu erwartenden Stellungnahme abhängen.

Dieter Reinisch ist Historiker und Adjunct Professor in International Relations in Wien und Salzburg. 2017 erschien von ihm »Die Frauen der IRA« bei Promedia.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.