»Es ist eine systematische Unterdrückung«

Eine Delegation aus Afrin berichtet von der brutalen Herrschaft der Türkei in der mehrheitlich kurdischen Provinz in Syrien

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Im März 2018 drang das türkische Militär in die kurdisch kontrollierte Provinz Afrin ein. Durch eine brutale Offensive mit dem Namen »Operation Olivenzweig« wurden die Einheiten der Volksverteidigungseinheiten YPG vertrieben und die basisdemokratische Selbstverwaltung ersetzt. Heute regieren neben der türkischen Armee diverse islamistische Milizen. Können Sie die Lage vor Ort skizzieren?

Bevor Afrin besetzt wurde, gab es dort ein basisdemokratisches System, eine Selbstverwaltung. Alle Bestandteile der Gesellschaft lebten friedlich zusammen. Die Frauenemanzipation war großgeschrieben, auch die ersten kämpfenden Fraueneinheiten der YPG kommen aus der Region Afrin. Doch der türkische Staat betrachtet uns als Terroristen. Im März 2018 haben sie dann ihre Offensive begonnen, um Afrin zu erobern. 58 Tage lang haben sie die Stadt aus der Luft angegriffen. Es gab viele zivile Opfer, am 15. März 2018 wurde sogar das Krankenhaus in Afrin bombardiert, doch die Weltgemeinschaft hat geschwiegen. Dabei waren wir diejenigen, die den IS vertrieben haben. Doch trotzdem wurden wir im Stich gelassen. Die Türkei hat nach der Besatzung unsere Art zu leben gewaltsam umstrukturiert. Tausende sind in andere Regionen geflohen oder leben in Flüchtlingslagern um Afrin. In den Städten regieren radikale Islamisten, unter anderem die al-Nusra-Front. Gerade aber beobachten wir, dass viele IS-Leute direkt aus den östlichen Gebieten, Rakka, Baghouz usw. nach Afrin kommen. Beziehungsweise sie werden dorthin transportiert, nachdem das Kalifat gefallen ist.

Die Delegation
Das Interview wurde mit einer mehrköpfigen Delegation aus der Provinz Afrin geführt. Die Gesprächspartner leben in Schabha, wo weiterhin eine basisdemokratische Selbstverwaltung herrscht. Derzeit sind sie auf Deutschlandbesuch, um Aufmerksamkeit für ihre Sache zu erreichen. Vergangene Woche trafen sie die Bundestagsabgeordnete Katja Kipping (Die Linke). Aus Sicherheitsgründen möchten sie auf ein Foto verzichten.

Wer transportiert sie?

Der türkische Staat. Aber wir sagen schon lange, dass der IS sich nur wegen der Türkei in Syrien etablieren konnte. Was jetzt in Afrin stattfindet, ist der Versuch der Türken, Afrin zu annektieren und demografisch, kulturell und verwaltungstechnisch zu ihrem Staat zu machen.

Können Sie beschreiben, wie dafür vorgegangen wird?

Vor dieser Besatzung haben die Kurden in ihrer eigenen Sprache gesprochen und es herrschte Religionsfreiheit, nicht nur zwischen den islamischen Glaubensrichtungen. Zum Beispiel die jesidische Minderheit, die unter der basisdemokratischen Selbstverwaltung frei leben konnte. Jetzt sind die islamistischen Milizen dabei, mit aller Gewalt die Jesiden zu islamisieren. Man hat Türkisch als zweite Amtssprache eingeführt und die primäre Unterrichtssprache ist nun auch Türkisch. Dazu wird ein radikaler Islam praktiziert und unterrichtet. Die Kinder sind ab fünf Jahren in der Schule, dort müssen sie alle, ob sie Jesiden sind oder Alawiten oder Sunniten, die islamischen Rituale einhalten. Diesen Druck auf die Menschen üben sie aus, damit es eine demografische Umstrukturierung in Afrin gibt, und bis jetzt funktioniert es. Auch durch sexuelle Gewalt auf Frauen. Viele werden unter dem Vorwand der Sabaya verhaftet, also als Kriegsbeute im islamischen Sinne. Es ist dasselbe wie damals 2014 in Schingal, Irak, es ist eine systematische Unterdrückung.

Der Ort Schahba ist für viele Menschen ein Rückzugsort und das letzte Hoheitsgebiet der Selbstverwaltung in Afrin. Was können Sie dazu sagen?

Aus Afrin leben heute circa 150 000 Menschen dort. Davon sind 50 000 bis 60 000 Kurden. Die Bedingungen, unter denen die Menschen leben, sind äußert schwierig. Es fehlt an allem. Aber sie führen ihren Widerstand weiter. Es ist ihre Mission, der ganzen Welt das wahre Gesicht der Besatzung zu zeigen. Das tun wir, in dem wir die demokratische Selbstverwaltung dort weiter praktizieren.

Welche Hoffnung gibt für die kurdische Sache in der Region? Welche Schritte werden unternommen und welche Bündnisse dafür gesucht?

Hauptsächlich berufen wir uns auf unsere Stärke, auf unser Volk. Wir müssen gegen die Besatzung Widerstand leisten und Druck erzeugen, vor allem von unten. Weltweit wissen die Menschen von unserem Kampf. Trotzdem fehlt es an politischer Konsequenz. Wir haben den IS besiegt, doch trotzdem vergisst man uns. In dieser Hinsicht benötigen wir Hilfe von außen.

Ein Beispiel ist die Rolle Assads: Wir haben den Krieg gegen das syrische Regime nie begonnen. Doch trotzdem hat es der Türkei freie Hand gewährt. Wir sind nicht gegen eine Lösung mit dem Regime. Wir sagen, das Regime soll seine Ideologie, seine Mentalität ändern, eine demokratische Lösung akzeptieren. Aber das Regime ist leider genau so wie 2011, da hat sich nichts getan. Deswegen scheint die Gewalt die einzige Lösung: So, wie wir den IS besiegt und zurückgeschlagen haben, werden wir auch die Besatzung der Türken und Islamisten beenden. Und unsere Position ist, dass die größte Kraft die des Volkes ist, und das Volk hat entschieden.

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