Der Sport ist voll von Ungleichheit

Sportphilosoph Elk Franke kritisiert das CAS-Urteil, das Caster Semenya zwingt, Hormone einzunehmen

Die Läuferin Caster Semenya hat vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS verloren und muss nun medikamentös ihren Testosteronspiegel senken. Hat Sie das Urteil überrascht?

Nein. Der CAS ist ein Organ, das versucht, den immanenten Sportbetrieb einigermaßen zu regeln. Dennoch muss ich kritisieren, dass das ein Urteil ist, was versucht, ein Symptom zu korrigieren, ohne strukturelle Konsequenzen zu berücksichtigen.

Zur Person

Der emeritierte Sportphilosoph Elk Franke lehrte bis 2009 an der Humboldt-Universität in Berlin. Er wurde vor 76 Jahren in Schweidnitz (Świdnica) geboren und war Mitglied im Ethikrat der Vereinigung für Sportwissenschaft. Zuletzt trat er als Autor der Reihe »Sport, Doping und Enhancement« auf. 

Welche Konsequenzen wären das?

Das Regelwerk des Sports stand immer für eine formale Chancengleichheit, hat dabei aber reale Ungleichheiten akzeptiert. Chancengleichheit bezieht sich nicht darauf, dass etwa beim Hochsprung alle Teilnehmer gleich groß sind. Die individuellen Voraussetzungen werden nicht angeglichen, es gilt demnach nur die formale Chancengleichheit. Körpergröße, Gewicht und anderes spielen in vielen Sportarten keine Rolle. Im Boxen oder Gewichtheben wird in Gewichtsklassen differenziert, um eine gewisse Gleichheit herbeizuführen. Die Leichtathletik gleicht solche individuellen Unterschiede bislang aber nicht aus, sonst würde es Hochsprung für Menschen unter 1,80 Meter und jene über 1,80 Meter geben. Genau so gilt das für jemanden, der in Äthiopien trainiert und Höhenluft im Alltag erfährt, gegenüber jenem, der zum Höhentraining erst ins Gebirge reisen muss.

Jetzt wird aber in die Natürlichkeit von Athletinnen eingegriffen.

Genau das ist der zweite Aspekt, der insbesondere durch die Dopingdiskussion relevant wurde: die Trennung in natürliche und künstliche Hilfsmittel. Höhentraining, um den Hämatokritwert zu steigern und somit den Sauerstofftransport des Bluts zu verbessern, ist die Arbeit am Körper. Die ist erlaubt. Wenn ich den gleichen Effekt durch eine EPO-Spritze herbeiführe, ist das verboten. Die Arbeit am Körper ist erlaubt, aber die Infiltration in den Körper hinein nicht. Claudia Pechstein war mit einem Indizienurteil zu Unrecht des Dopings bezichtigt worden, obwohl sie glaubhaft zeigen konnte, dass sie keine von außen eingeführten Mittel nutzte, aber trotzdem bessere Bluttransportwerte hatte als erlaubt. Ihr Prozess zeigte, dass sie eine besondere genetische Voraussetzung hatte. Diese Natürlichkeitsbedingung gilt für sie immer noch, und sie darf starten, obwohl sie einen Vorteil gegenüber anderen hat. Man hat die individuelle genetische Voraussetzung akzeptiert, also das, was jeder Sportler in die Wiege gelegt bekommt. Auch Caster Semenya hat natürliche Voraussetzungen, die von anderen abweichen.

Aber Kontrahentinnen meinen, ihr erhöhter Testosteronwert mache sie männlicher. Und es gibt im Sport nun einmal die Trennung von Mann und Frau.

Der Sport ist das einzige Feld, in dem Männer und Frauen noch voneinander getrennt in Wettbewerbssituationen auftreten. Bei aller Gleichberechtigungsdiskussion wird das gesellschaftlich toleriert und unterstützt. Hier entsteht nun die Schwierigkeit, weil Semenyas Testosteronwert angeblich über dem Normwert liegt. Und jetzt wird sie individuell aufgefordert, den zu senken. Das ist ein Novum innerhalb des Sports. Bisher hat man sich bei der Beurteilung des Geschlechts auf den Phänotyp beschränkt, das heißt, Männer und Frauen in ihren äußeren Erscheinungsformen. Das Heranziehen von Testosteronanalysen greift nun in den Natürlichkeitsbereich einer Person ein, der bisher als individuelles Kapital angesehen worden ist. Dass sich jemand sechs Monate lang einer Hormonbehandlung unterziehen muss, um eine Startberechtigung zu bekommen, ist ein Eingriff in die individuelle Integrität einer Person, der den bisherigen Sportregeln nicht gerecht wird. Es ist vielmehr der Versuch, dem öffentlichen Druck Rechnung zu tragen.

Der CAS bezeichnet den Zwang zur Medikamenteneinnahme zwar als diskriminierend, aber auch als angemessen, weil nur ein millionenfach von Frauen genutztes Mittel oral eingenommen und niemand operiert werden müsse. Ist das Argument stichhaltig?

Nein, denn es ist nachrangig, unter welchen Bedingungen der Hormonhaushalt einer Frau verändert wird. Sie wird in ihrer individuellen Integrität als Frau verpflichtet, die hormonellen Voraussetzungen zu verändern, die sie nachweislich genetisch mitbekommen hat. Das unterläuft die bisherige Praxis. Will man künftig die Trennung von Männern und Frauen im Sport tatsächlich unter angeblich neuen Gesichtspunkten gestalten, dann muss man das generalisieren, was man jetzt individuell entscheidet. Und dann gibt es in Zukunft für alle Differenzierungen in Männer- und Frauensportarten die Überprüfung des Testosteronwertes. Dann hätte es wieder einen Gleichheitscharakter.

Wollen Sie damit sagen, wenn etwa das IOC die Regel für alle Sportarten übernehmen würde, wäre es in Ordnung? Der Leichtathletikweltverband IAAF sagt ja auch, das sei keine Regelung, die nur Semenya betreffe, sondern alle Hyperandrogyne.

Nein, gar nicht. Es geht hier schließlich auch um die Würde der Person, deren Entscheidungsfreiheit unter der Vorgabe von Strafbedingungen eingeschränkt wird. Der Sport darf das für seine Sonderwelt grundsätzlich tun. Er muss aber damit rechnen, dass diese Regeln dann noch mal überprüft werden, auch im Sinne der Wahrung der Menschenrechte. Für mich ist es nachvollziehbar, wenn IAAF-Präsident Sebastian Coe sagt, er wolle einen fairen Wettbewerb sicherstellen, bei dem Erfolg durch Talent, Hingabe und harte Arbeit bestimmt wird und nicht durch andere Faktoren. Diese anderen Faktoren sind aber die genetischen Voraussetzungen, die bisher als individuelle Ungleichheit im Sport toleriert wurden.

Ist dieser Eingriff in Persönlichkeitsrechte ein Novum im Sport?

Nein, wir hatten in der Dopingdiskussion schon etwas Ähnliches mit der Einführung des Blutpassprogramms. Als Bürger kann ich mich etwa bei einem Alkoholverdacht im Straßenverkehr nicht dagegen wehren, dass mir Blut abgenommen wird. Aber man kann mich im Alltag nicht dazu verpflichten, dass ich mir Blut abnehmen lasse. Der Sport hat dann in anderer Weise argumentiert und diese Verpflichtung mit dem Blutpassprogramm eingeführt.

Der CAS betonte, es ginge nicht darum, Semenyas weibliche Identität infrage zu stellen, sondern um etwas rein Biologisches. Die Kategorien im Sport heißen aber weiter: Frauen und Männer. Kann der Zuschauer da überhaupt unterscheiden?

Das ist eine interessante Diskussion. Die Gender-Debatte hatte vor 30 Jahren zum Glück auch endlich den Sport erreicht. (Es werden keine Geschlechtstests mehr durchgeführt, Anm. d. Red.) Hier haben wir jetzt aber eine Reduzierung dieser Debatte auf die biologische Komponente. Für die Sportrichter spielte nur noch der biologische Körper eine Rolle. Der Phänotyp Mann/Frau wird nicht mehr akzeptiert. Das überschreitet das bisherige Regelwerk des Sports.

Hyperandrogenismus ist extrem selten. Hätte man die Besonderheit von Semenya und zwei, drei anderen Athletinnen weltweit einfach ignorieren sollen?

Ja. Man akzeptierte ja auch Dirk Nowitzkis Vorteile hinsichtlich seiner Körpergröße im Basketball. Da gab es keine Abwehrspieler, die sich beklagten, ihn nicht verteidigen zu können. Nun aber gibt es eine Auflage, natürliche Anlagen hormonell zu behandeln, um eine Starterlaubnis zu bekommen. Bisher gelten diese Anlagen einfach als die Chance des Sportlers auf Erfolg. Der Sport ist schließlich voll von natürlichen Ungleichheiten. Aber hier nimmt man sich einen Punkt heraus mit weitreichenden Konsequenzen in den Bereichen Gender und biologische Körperlichkeit.

Die Unterscheidung im Sport zwischen Männer- und Frauenwettbewerben gibt es ja vornehmlich, um Frauen gleiche Chancen zu geben, sportlich zu strahlen und Aufmerksamkeit zu erlangen. Hebt man sie auf, wären Frauen fast immer chancenlos, und man würde sie noch seltener wahrnehmen als ohnehin schon. Ist diese Unterscheidung im Sport nicht notwendig?

Ich kann das schon alles nachvollziehen. Hier wird jetzt aber ein normatives Bild von »echter Frau« und »echtem Mann« konzipiert. Aus meiner Sicht müssen im Frauensport solche Unterschiede ausgehalten werden. Ebenso wie man in anderen Sportarten akzeptiert, dass etwa besondere Winkelverhältnisse der Gliedmaßen eines Sportlers allen anderen die Chance nehmen, eine Rolle zu spielen und Erfolg zu haben.

Die IAAF verlangt nun für die Herstellung von Chancengleichheit eine Medikamenteneinnahme. Was hindert Männer mit niedrigen Testosteronwerten daran, diesen jetzt medikamentös zu erhöhen, um ihrerseits gleiche Siegchancen zu bekommen? Das wäre bisher Doping, aber der CAS sanktioniert das doch in gewisser Weise.

Im Grunde wird das ja längst gemacht. Es gibt den Begriff des Herandopens. In vielen Bereichen gibt es Grenzwerte, zum Beispiel beim Hämatokritwert im Blut, der nicht über 50 liegen darf. Normale Sportler haben einen von 42 bis 44. Wer im Hochland von Äthiopien lebt, bei dem liegt er von Hause aus bei 47 oder 48. Menschen aus dem Flachland haben also eine um zehn Prozent geringere Leistungsfähigkeit. Es ist längst üblich, dass die sich mit EPO-Mikrodosen auf 48 an den Grenzwert herandopen. Vielleicht braucht der Sport ja künftig solche Regeln wie jene, die der CAS jetzt bestätigte. Dann wäre aber eine neue Gender-Positionierung nötig. Man müsste eventuell auch das sogenannte dritte Geschlecht mittelfristig in die Sportlandschaft aufnehmen. Aber im Augenblick erleben wir nur eine punktuelle symptomhafte Reaktion.

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