Das Netz des Lebens franst aus

Laut Bericht des UN-Biodiversitätsrates ist jede achte Tier- und Pflanzenart vom Aussterben bedroht

  • Christian Mihatsch
  • Lesedauer: 4 Min.

»Das unentbehrliche Netz des Lebens auf der Erde wird kleiner und franst immer mehr aus.« So lautet die Warnung von Josef Settele - der Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle ist einer der Leitautoren des ersten weltweiten Berichts zum Zustand der Artenvielfalt seit 2005, der am Montag bei der Tagung des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) in Paris vorgestellt wurde. Der Bericht zeigt, dass eine Million von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht ist. »Dieser Verlust ist eine direkte Folge menschlicher Aktivität und stellt eine Gefahr für die Wohlfahrt der Menschen in allen Regionen der Welt dar«, erklärt der Biologe.

Der IPBES-Bericht beruht auf über 15 000 wissenschaftlichen Studien, die von dem UN-Expertengremium im Auftrag von über 100 Staaten der Welt ausgewertet wurden. Wie auch beim Weltklimarat IPCC üblich wurde anschließend die Zusammenfassung des 1800-seitigen Berichts von Regierungsvertretern ausgehandelt. Damit repräsentiert der Bericht nicht nur den wissenschaftlichen Konsens, sondern auch den der Regierungen. Diese wurden von der Chefin der UN-Kulturorganisation UNESCO, Audrey Azoulay, ermahnt: »Die heutige Generation hat die Verantwortung, künftigen Generationen nicht einen Planeten zu vererben, der irreversibel geschädigt ist.«

UN-Biodiversitätsrat

Der Weltrat für Biologische Vielfalt (Weltbiodiversitätsrat, kurz IPBES) wurde offiziell im April 2012 auf Ebene der Vereinten Nationen gegründet. Das Sekretariat hat seinen Sitz in Bonn. Genau wie der Weltklimarat IPCC fungiert er als wissenschaftliches Beratergremium für die Politik und erstellt dazu umfassende Berichte.

Derzeit gibt es 132 Mitgliedsländer. Kernaufgabe ist die unabhängige Bestandsaufnahme der biologischen Vielfalt sowie ihrer Gefährdung und Zerstörung. Betrachtet werden auch Ökosystemleistungen wie die Blütenbestäubung.

Die Mitgliedsstaaten und -organisationen nominieren für die Berichte zeitlich befristet Autorenteams aus Forschern und weiteren Experten. Für den neuen Bericht trugen 145 Autoren aus 50 Ländern unterstützt von mehr als 300 weiteren Experten drei Jahre lang vorhandenes Wissen aus etwa 15.000 Studien und anderen Dokumenten zusammen. dpa/nd

Dabei sind die Schäden schon jetzt erheblich: 85 Prozent aller Feuchtgebiete, die Hälfte der Korallenriffe und knapp ein Drittel der Wälder sind verschwunden. Ein Viertel der Böden ist geschädigt und 93 Prozent aller Fischbestände sind überfischt oder werden maximal ausgebeutet. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Plastikverschmutzung verzehnfacht, und 80 Prozent aller Abwässer fließen ungeklärt in Flüsse und Meere. Für das Plündern und Brandschatzen der Natur gibt es auch noch finanzielle Förderung: Umweltschädliche Landwirtschaft wird in den Indus-triestaaten jährlich mit 100 Milliarden Dollar subventioniert, bei der Förderung von Kohle, Öl und Gas sind es weltweit 345 Milliarden Dollar. Letzteres führt zu Folgekosten für die Allgemeinheit von 5000 Milliarden Dollar. Azoulay kommt denn auch zu dem Schluss: »Wir müssen anders auf der Erde leben«, ansonsten sei der Fortbestand der Menschheit in Gefahr.

Der Grund für die Zerstörung ist das Wachstum der Wirtschaft und der Weltbevölkerung, gekoppelt mit ressourcenintensiven Produktions- und Konsummustern. Seit 1970 haben sich die Zahl der Menschen verdoppelt und die globale Wirtschaftsleistung vervierfacht. Dies hat zur Urbarmachung riesiger Flächen, zum Verbrauch von immer mehr Bodenschätzen und Agrarrohstoffen, zu Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre und Verschmutzung von Wasser, Luft und Böden geführt. Hinzu kommt die steigende Anzahl invasiver Arten auf allen Kontinenten. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass die Welt ihre bei einer UN-Konferenz 2010 in Japan gesetzten Ziele für den Schutz der Artenvielfalt verfehlt. Von den »Aichi-Zielen« - Halbierung des Verlusts an natürlichen Lebensräumen, Stopp der Überfischung der Weltmeere, Schutzgebiete für 17 Prozent der Landfläche und 10 Prozent der Meere jeweils bis 2020 - sind die meisten nicht erreichbar. Der schlechte Zustand der Natur erschwert zudem das Erreichen vieler der UN-Entwicklungsziele für das Jahr 2030.

Eine Umkehr des Zerstörungstrends ist technisch und wirtschaftlich aber noch möglich. »Wenn wir sofort und simultan die verschiedenen indirekten und direkten Ursachen angehen, dann besteht das Potenzial, den Verlust der Artenvielfalt und der Ökosysteme zu verlangsamen, zu stoppen und sogar rückgängig zu machen«, heißt es im Bericht. Dazu sei aber ein »transformativer Wandel« erforderlich, sagt der Biodiversitätsvorsitzende, der britische Chemiker und Umweltforscher Robert Watson. Ein solcher Wandel bedeute die »fundamentale, systemweite Reorganisation technologischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren inklusive der Paradigmen, Ziele und Werte«. Oder, um es mit dem italienischen Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa zu sagen: »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.«

Dass das nicht allen gefallen wird, ist dem Biodiversitätsrat klar. »Transformativer Wandel kann Opposition erwarten von denen, die ein persönliches Interesse am Status quo haben«, meint Watson. Er macht eine Prognose, die angesichts der Klimapolitik der meisten Länder gewagt klingt: »Diese Opposition kann überwunden werden für das öffentliche Interesse.«

Inwiefern das gelingen kann, wird sich nächstes Jahr bei der Konferenz der UN-Biodiversitätskonvention zeigen, wo die Nachfolger der Aichi-Ziele verabschiedet werden sollen. Dann müssen die Länder auch sagen, wie viel ihnen der globale Artenschutz eigentlich wert ist.

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