Werbung

Die Grünen sind aufgewacht

Landesdelegierte wollen trotz Querelen das Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« unterstützen

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Ende war es ein einstimmiges Votum für Enteignungen: Die knapp 50 Delegierten des Landesausschusses der Berliner Grünen, dem höchsten Beschlussorgan zwischen den Mitgliederversammlungen und den Delegiertenkonferenzen, nahmen einen entsprechenden Leitantrag an, der vom Landesvorstand, einigen Abgeordneten und Bezirksvertreter*innen sowie den drei grünen Senator*innen Ramona Pop, Regine Günther und Dirk Behrendt eingebracht worden war. Die Positionierung zum Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« war und ist innerhalb der Partei umstritten. So war Wirtschaftssenatorin Pop in den vergangenen Wochen deutlich auf Distanz zur Forderung nach Enteignung großer Wohnungsbaukonzerne gegangen. Einige Abgeordnete und viele Basisaktivist*innen unterstützen hingegen die Unterschriftensammlung für das Begehren.

Mit dem verabschiedeten Antrag glaubt man nun, einen tragfähigen Kompromiss gefunden zu haben. »Wir würden uns wünschen, dass die Umstände uns nicht zwingen, die Vergesellschaftung als letztes Mittel anzuwenden, um den verfassungsgemäßen Auftrag (soziale Wohnraumversorgung) erfüllen zu können«, heißt es in dem Papier. Angeregt wird »ein Runder Tisch, an dem alle beteiligten Akteur*innen, von der Initiative bis hin zu profitorientierten Wohnungsunternehmen, beteiligt sind, um weitgehende Maßnahmen zum Schutz der Mieter*innen zu erarbeiten«. Die Forderung der Initiative, alle gewinnorientierten Unternehmen ab einem Bestand von 3000 Wohnungen zu enteignen, sehe man »kritisch«, heißt es weiter. Vielmehr gehe es um qualitative Kriterien wie Einhaltung des Mietspiegels, Erfüllung von Instandhaltungspflichten oder ein Mietenmoratorium.

Stärkt unabhängigen Journalismus
Jeden Tag lesen rund 25.000 Menschen unsere Artikel im Internet, schon 2600 Digitalabonennt*innen und über 500 Online-Leser unterstützen uns regelmäßig finanziell. Das ist gut, aber da geht noch mehr! Damit wir weiterhin die Themen recherchieren können, die andere ignorieren und euch interessieren. Hier mitmachen!

In der Debatte wurde vor allem das eigenständige Profil der Grünen in der Wohnungspolitik beschworen. »Wir müssen Vorreiter beim Dialog mit der Wohnungswirtschaft auf Augenhöhe sein«, betonte der Berliner Abgeordnete Andreas Otto. Dazu seien nur die Grünen in der Lage, denn die SPD sei »mit der Wohnungswirtschaft verfilzt« und die LINKE »im Klassenkampfmodus«.

Der Landesvorsitzende Werner Graf bezeichnete das Volksbegehren als »Weckruf« und beschwor den »grünen Dreiklang in der Wohnungspolitik: Bauen, erwerben, regulieren - und zwar alles gleichzeitig«. Dazu gehöre auch ein wirksamer Mietendeckel und die verstärkte Förderung von Genossenschaften. Die Ko-Vorsitzende Nina Stahr betonte die realpolitische Verantwortung der Partei: »Regieren bedeutet nicht Unterschriften sammeln, sondern handeln«. Auch Franziska Eichstädt-Bohlig, ehemalige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus, blieb vorsichtig: Sie sei »kein Fan von Enteignungen« und für viele Parteimitglieder sei das »Teufelszeug«, betonte Eichstädt-Bohlig. Aber man müsse der Initiative »für diesen Tabubruch dankbar sein«. Sie habe die Wohnungsfrage in den Mittelpunkt der stadtpolitischen Auseinandersetzung gerückt. Dagegen stellte sich Katrin Schmittberger, wohnungspolitische Sprecherin der Fraktion, klar hinter die Initiative: »Wer mit unserer Stadt Monopoly spielt, muss damit rechnen, dass wir die Ereigniskarte Vergesellschaftung ziehen«. Das Volksbegehren sei eine große Chance und »ein scharfes Schwert, um endlich das Primat der Politik auf dem Wohnungsmarkt durchzusetzen«.

Abgelehnt wurde ein Änderungsantrag des Basisdelegierten Tobias Balke. Er bezeichnete den Leitantrag als »schwammig«. Es gehe nicht um »einen Dialog mit der Wohnungswirtschaft, sondern um knallharte Verhandlungen«. Entweder die Unternehmen akzeptierten eine umfassende Regulierung durch einen Mietendeckel oder man werde deren Enteignung aktiv vorantreiben. Dies wurde jedoch als »Drohkulisse«, die die Verhandlungsposition der rot-rot-grünen Landesregierung erheblich schwächen würde, abgelehnt. Der innerparteiliche Konflikt um die Enteignungsfrage ist mit dem verabschiedeten Antrag zunächst befriedet. Wenn die Initiative Ernst macht und die zweite Stufe des Volksbegehrens einleitet, könnte er wohl jederzeit wieder aufbrechen.

Lesen sie auch zum Thema: Im Kapitalismus gibt’s nix gratis. Marie Frank über die Haltung der Grünen bei Enteignungen. Ein Kommentar von Marie Frank

Erwartungsgemäß empört reagierte Beatrice Kramm, Präsidentin der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) auf die Erklärung: »Mit großer Irritation nehmen wir zur Kenntnis, dass also selbst die Wirtschaftssenatorin die Enteignung privater Unternehmen am Standort Berlin befürwortet. Wenn zwei Drittel des Senats der sozialen Marktwirtschaft das Misstrauen aussprechen, ist das ein fatales Signal für freies Unternehmertum - nicht nur in Berlin.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.