Bye, bye, Biedermeier?

Die Grünen gelten nicht mehr als Ökospießer - das liegt auch an Annalena Baerbock.

Einsatz für den Klimaschutz ist bislang immer mit Verzicht einhergegangen. Wenn die Grünen das Thema auf ihre Agenda setzten, waren sie gleich wieder die Verbotspartei. Der Begriff Bionade-Biedermeier aus den Nullerjahren beschrieb treffend die typischen Grünenwähler. Er drückte aus, was viele dachten. Dass die Parteianhänger doch eigentlich moralisierende Spielverderber sind. Nicht viel deutete darauf hin, dass sie dieses Stigma einmal ablegen würden.

Und doch geschah dies. Seit nämlich die Jugend für Klimaschutz auf die Straße geht und dabei von der Wissenschaft unterstützt wird, scheint einiges ins Wanken gekommen zu sein. Ihr Appell an die Politik, endlich etwas zu tun, hat einen Nerv getroffen.

Dabei gab es den Versuch von Christ- und Sozialdemokraten, diese Proteste als naive Spinnerei abzutun. Wie sie es seit Jahren getan haben. Und auch die Liberalen sprangen in die Bresche. Alle haben noch den Spruch von FDP-Chef Christian Lindner im Ohr. Sich um die Umwelt zu kümmern, sei die Aufgabe von Profis, sagte er. So was bleibt hängen. Es war das alte Rezept, auf solche Proteste zu antworten.

Doch nun passierte etwas Verblüffendes: Ihre Antworten fanden keinen Anklang mehr in der Öffentlichkeit. Und das ist ein Hinweis darauf, dass sich wirklich etwas verändert hat.

Nutznießer davon sind vor allem die Grünen. Sie haben die zurückliegende Europawahl Ende Mai gewonnen, die im Nachhinein als »Klimawahl« bezeichnet wird. Dieser noch vor kurzem für undenkbar gehaltene Aufstieg der Partei hängt auch mit dem Wirken von Annalena Baerbock zusammen, die sich seit knapp anderthalb Jahren zusammen mit Robert Habeck den Parteivorsitz teilt. Zwar ist Habeck mit seiner eloquenten, lässigen Art beliebt, zuletzt sogar beliebter als Kanzlerin Angela Merkel. Doch die 38-jährige Baerbock ist schon seit einiger Zeit aus seinem Schatten hervorgetreten. Sie wirkt jugendlich, ist feministisch und gibt sich weltoffen. Vielleicht noch mehr als Habeck ist sie eine Identifikationsfigur für die jungen Wähler, unter denen die Grünen bei der Europawahl mit Abstand die meisten Stimmen bekommen haben.

Baerbock brauchte Zeit, um in ihren Posten hineinzuwachsen, erzählte sie einmal. Jetzt scheint sie angekommen zu sein. Im Gegensatz zu ihren Amtsvorgängern Simone Peters und Cem Özdemir, die einander oft misstrauten, pflegt sie ein harmonisches Verhältnis mit Habeck. Sie haben einen gemeinsamen Büroleiter, stimmen sich ab, ergänzen sich. In der Partei hat sie den Ruf einer geschickten Vermittlerin.

Streit gab es im Dezember mit den hessischen Grünen, die in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU standen und einer Ausweitung der »sicheren Herkunftsstaaten« zustimmen wollten. Oft schon hatte Baerbock mit ihnen gesprochen und darauf gedrängt, auf Bundes- und Landesebene eine einheitliche Position zu vertreten. Die Bundespartei lehnt eine Ausweitung ab. Wie Baerbock den Konflikt gelöst hat, ist bemerkenswert: Sie gab der »Süddeutschen Zeitung« ein Interview und forderte darin, »straffällige Asylbewerber, die unsere Rechtsordnung nicht akzeptieren und vollziehbar ausreisepflichtig sind«, schneller abzuschieben.

Der Ton war rau. Die Parteilinke fühlte sich provoziert. Die Parteichefin musste alles daran setzen, eine Eskalation zu verhindern. Sie führte Dutzende Telefonate mit einflussreichen Parteilinken - habe ihnen erklärt, dass man eben einen Preis zahlen müsse, berichten diese. In Hessen war das Interview letztlich hilfreich für die Verhandlungen mit der CDU. Fünf Tage nach dem Erscheinen wurde der Koalitionsvertrag unterzeichnet, der festhält, dass die beiden Parteien unterschiedliche Auffassungen bei den »sicheren Herkunftsstaaten« haben. Der Konflikt war beigelegt. Sowohl bei Schwarz-Grün in Hessen als auch innerhalb der Partei. Es war Baerbocks Verdienst.

Diese Geschichte zeigt auch, wie sehr den Grünen der Idealismus abhandengekommen ist. Auch das gehört zum Erfolgsrezept des Realo-Duos Baerbock/Habeck. Denn das lässt die Grünen nahbar und nicht mehr als Moralisten erscheinen. »Die Zeiten sind neu«, sagte Baerbock im März, als die Partei ihr Parteiprogramm reformierte. »Wäre schräg, wenn wir da nur unsere Vorsitzenden updaten würden, nicht unseren Inhalt.« Baerbock ist eine Pragmatikerin, die aber radikale gesellschaftliche Veränderungen verlangt. Ganz oben auf der To-do-Liste steht natürlich die Klimakrise. Sie schlägt eine CO2-Steuer vor; und alles, was Bund, Länder und Kommunen künftig beschließen, müsse mit dem Klimaschutz im Einklang stehen. Außerdem solle der Finanzmarkt gezügelt werden, und die Digitalisierung habe künftig dem Menschen zu dienen.

Mit einer sozialen Politik versuchen die Grünen nicht zu punkten. Zwar sind sie auch für eine sanktionsfreie Grundsicherung, aber in der öffentlichen Kommunikation spielt diese keine Rolle. Habeck und Baerbock meiden unpopuläre Themen, die viel Geld kosten. Lieber geben sie sich als moderne Konservative, die sowohl mit der CDU ein Bündnis eingehen können als auch mit der Linkspartei. Sie ecken nicht mehr an. Das ist ihr Erfolgsrezept. Im aktuellen »Deutschlandtrend« sind die Grünen erstmals stärkste Partei. Noch vor der Union.

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