Toxische Meinungsmache

Im Kampf gegen Inklusion arbeiten die Gegner mit faulen Tricks, meint Raul Krauthausen

  • Raul Krauthausen
  • Lesedauer: 3 Min.

Die schulische Inklusion ist regelmäßig zum Scheitern verurteilt worden. Zum Teil wurde sie sogar zum Alleinschuldigen für die hiesige Bildungsmisere gemacht. Man liest von den »Grenzen der Inklusion«, »tyrannisierenden Förderschüler*innen« und »aufrüstenden Inklusionsbefürworter*innen«. Eines scheint im öffentlichen Diskurs fast immer festzustehen: Schulische Inklusion ist unmöglich. Manche möchte sie gerne »pausieren« lassen, so zum Beispiel der niedersächsische CDU-Landesvorsitzende Bernd Althusmann. Ist die schulische Inklusion tatsächlich so schlecht wie ihr Ruf?

Auf diese Frage findet der Film »Die Kinder der Utopie« des Regisseurs Hubertus Siegert Antworten. Er porträtierte darin eine Inklusionsklasse an der Berliner Fläming-Grundschule, der ersten Schule Deutschlands mit inklusiven Klassen, in denen nichtbehinderte und behinderte Schüler*innen gemeinsam unterrichtet wurden und werden. Viele Jahre später lässt Siegert die ehemaligen Schüler*innen wieder aufeinandertreffen. Wie bewerten die erwachsenen »Kinder der Utopie« ihre damaligen Schulerfahrungen? Wurden die nichtbehinderten Schüler*innen durch ständige Rücksichtnahme auf die behinderten Mitschüler*innen im Lernen und ihrer Entwicklung ausgebremst, so wie es die Inklusionskritiker ständig behaupten?

Mittlerweile sind die Protagonisten des Films aus dem Elternhaus ausgezogen, alle bewegen sich zielorientiert in ihrer Berufswahl. Der nichtbehinderte Christian studiert und Natalie, eine junge Frau mit Down-Syndrom, hat eine Festanstellung als Küchenhilfe. Auch der Rest ist an einer Universität gelandet, hat eine Ausbildung abgeschlossen oder den Weg aus der Behindertenwerkstatt heraus auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft. Inklusion funktioniert also doch - trotz aller Unkenrufe aus Politik und Medien.

Nicht selten vermitteln diese sogar den Eindruck, dass Schüler*innen mit Förderbedarf die Regelschulen fluten. Eine jüngst veröffentlichte Studie des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZfL) der Universität Köln und der Deutschen Sporthochschule widerspricht dieser Einschätzung. Es gibt nämlich de facto keine flächendeckende Mehrbelastung durch Inklusion an den Schulen. Laut Statistik gibt es in Deutschland an Regelschulen mittlerweile insgesamt 137 000 Schüler*innen mit Förderbedarf - allerdings sind die Schüler*innenzahlen an Förderschulen gleichzeitig um 47 000 geschrumpft. Die Rechnung geht offensichtlich nicht auf: 90 000 Schüler*innen wird heute Förderbedarf zugeschrieben, die zuvor als Regelschüler*innen unterrichtet worden wären. Zwei Drittel aller »Förderschüler*innen« waren also schon immer an den Regelschulen - lediglich der attestierte Förderbedarf ist neu.

Fraglos gibt es Regionen - zum Beispiel in Berlin -, in denen die allgemeine schulische Situation so schwierig ist, dass Schüler*innen mit Förderbedarf das bestehende Problem zu verschlimmern scheinen. Allerdings ist das nicht den Schüler*innen mit Förderbedarf zuzuschreiben, sondern den schlechten Voraussetzungen, die an den Schulen vorherrschen. Es gibt zu wenige Lehrer, zu große Klassen, zu wenige zusätzliche Fördermöglichkeiten und zu wenige Räumlichkeiten. Sprich: Für Bildung ist kein Geld da - und zwar für die aller Schüler*innen.

Die Inklusion von behinderten Schüler*innen ist ein Menschenrecht, von dem behinderte wie nichtbehinderte Schüler*innen profitieren. Deshalb wäre es an der Zeit, dass Medien und Politik aufhören, durch toxische Berichterstattung Kinder mit Behinderungen zu den Schuldigen der Schulmisere zu machen. Unser Bildungssystem krankt - und das nicht, weil man Menschen mit Behinderungen dieses Menschenrecht zugesteht.

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