Handbremse lösen!

Das schlechte Ergebnis der LINKEN bei der Europawahl ist kein Ausdruck einer zu großen Öffnung der Partei für neue Bewegungen und Milieus – im Gegenteil

  • Jan Schlemermeyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Manchmal kommen sie wieder. Seit der Europawahl mehren sich Stimmen, die das enttäuschende Ergebnis als Resultat der Öffnung für urbane Milieus und soziale Bewegung interpretieren. Gegen das Konzept einer »verbindenden Partei in Bewegung« (Kipping/Riexinger) fordern sie eine Rückkehr zum Markenkern der LINKEN (»Arbeit und Frieden«). So plädiert die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann, dass die LINKE »nicht die Grünen imitieren« solle. Denn wenn »die Leute Umweltpolitik wichtig finden, wählen sie eher das Original«. Der Soziologe Wolfgang Streeck erklärt gleich die »proeuropäische Ausrichtung« eines Großteils der Linkspartei in Europa zum Problem. Dagegen sei eine doppelte Rückbesinnung nötig: Zurück zum Nationalstaat und weg von den »postmodernen Themen« wie Gleichberechtigung, Ökologie und Antirassismus. Und Aufstehen-Aktivist Rainer Balcerowiak konstatiert mit Blick auf den linken Wahlkampf sogar eine »Konzentration auf Gender- und Identitätsthemen«. Diese Einschätzungen überzeugen nicht.

Angesichts der inhaltlichen Aufstellung der europäischen Linksparteien kann erstens von einem proeuropäischen Kurs keine Rede sein. Die Gemeinsamkeiten sind jenseits linker Basics insgesamt eher schmal. Zwischen der explizit EU-kritischen »La France Insoumise« und der LINKEN etwa lagen große Unterschiede – trotzdem erreichten beide enttäuschende Wahlergebnisse. Zweitens ist unklar, weshalb soziale Gerechtigkeit, zum Beispiel in Hinblick auf die Energiewende, nicht auch ein ökologisches Thema sein soll.

Der »Markenkern« der LINKEN liegt schließlich in einem verbindenden Ansatz: den Oben- und Unten-Konflikt zu benennen und überall die Klassenfrage zu stellen, egal bei welchem »Thema«. Und last but not least lässt der Blick auf die demoskopischen Daten eine andere Interpretation zu. Demnach ist nicht die Verbindung von sozialer Frage mit Ökologie und Globalisierung das Problem, sondern dass diese – im Hinblick auf kommunikative Konsequenz und praktische Umsetzung – noch ausbaufähig ist.

Für sechs von zehn LINKE-WählerInnen überwogen die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft. Die Sorge über den Klimawandel war sogar laut ARD-Europatrend im linken Milieu mit 90 Prozent weiter verbreitet als im grünen. Insgesamt wurde »Klimaschutz« von 48 Prozent der LINKE-WählerInnen als ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung genannt – mehr noch als »Friedenssicherung«. Und selbst bei den Arbeitslosen überholte die grüne »Gutverdienerpartei« mit 17 Prozent deutlich die LINKE, die auf 13 Prozent kam. Offenbar versagt die orthodoxe Zuschreibung »objektiver Interesse« hier.

Das zeigt, dass Wahlentscheidungen im besten Sinne politische Entscheidungen und nicht einfach Ausdruck materieller Lagen sind. Abgesehen davon gingen laut Infratest das Wahlergebnis eben nicht mit abnehmenden Kompetenzwerten im Bereich soziale Gerechtigkeit einher. Vielmehr konnte die Linkspartei sich hier sogar um vier auf 15 Prozent verbessern. An Unklarheiten über den »sozialen Markenkern« kann es also nicht gelegen haben, dass die LINKE deutlich unter ihrem Potenzial lag.

Woran dann? Im Vergleich zur vergangenen Europawahl verlor die LINKE mehr als 112.000 Stimmen. Wie diese Verluste mit den 130.000 Stimmen zusammenhängen, die die transnationale Liste Diem25 in Deutschland nun gewann, weiß man nicht. Was man jedoch weiß: Laut Infratest gingen bei der Europawahl viele Stimmen von Menschen, die bei der vergangenen Bundestagswahl die LINKE gewählt haben, an »Andere Parteien« und Grüne. An Parteien also, denen man viel vorwerfen kann – aber nicht, dass sie für eine Abkehr vom Klimaschutz oder eine pauschale »EU-Kritik« stehen würden. Bei der SPD war das Bild ähnlich: Sie verlor massiv Stimmen an Grüne und »Andere Parteien«, während die LINKE deutlich weniger Stimmen ehemaliger SPD-WählerInnen bekam.

Wie lässt sich das erklären? Eine Möglichkeit: Das Stammklientel nimmt ab. Die Leute überlegen immer wieder, wen sie wählen – bei der Europawahl fast 40 Prozent erst in den letzten Tagen vor dem Urnengang. Der Gebrauchswert einer Stimme muss daher klar sein. Offenbar hat es daran gemangelt.

Viele ehemalige LINKE-WählerInnen, die Protest und Visionen wollten, haben jedenfalls, auch aufgrund der fehlenden Fünf-Prozent-Hürde, für eine der kleinen Parteien wie die satirische Die Partei gestimmt. Und noch mehr Linke, die sich im Rechtsruck ein Statement für positive Veränderungen wünschen, haben die Grünen gewählt. Wohl auch, weil die Außendarstellung von Teilen der linken Bundestagsfraktion bei großen Themen wie der Migrationspolitik immer wieder im Kontrast zum Programm stand. Außerdem könnte die Fokussierung auf kleinteilige Forderungen im Wahlkampf falsch gewesen sein. Dadurch wurde außer Acht gelassen, dass in der Krise das Interesse an visionären Vorschlägen wächst. Zumindest drückte die LINKE wenig Mut zum weiten Horizont aus.

Eine LINKE des pragmatischen Radikalismus wird nun gebraucht, die sich nicht in der Vergangenheit verschanzt, sondern von der Zukunft spricht - und die in der Form konfliktbereiter wie im Inhalt klarer auftritt als bisher. Also: Mehr Stress im Parlament, mehr Mut auf Social Media, mehr Provokation im Wahlkampf, mehr Konzernkritik auf der Straße, mehr Organizing im Alltag und mehr Offenheit für Bewegung. Linke Politik sollte daran arbeiten, den fordistischen Referenzrahmen - Nationalstaat und Industriearbeit - zu überwinden. Insofern ist die Lehre aus dem Wahlergebnis gerade keine Abkehr vom Konzept der verbindenden Partei, sondern das Gegenteil: in Bewegung bleiben, weitergehen. Ein »weiter wurschteln« meint das ausdrücklich nicht, eher: Handbremse lösen!

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