»Flüchtlinge sind keine Bedrohung«

UN-Hochkommissar Grandi: Mit Zusammenarbeit, Ressourcen und gutem Willen lässt sich die Herausforderung bewältigen

Der globale Trend ist alarmierend: Mehr als 70 Millionen Menschen suchten 2018 Schutz vor Gewalt und Not, eine Zunahme um 2,3 Millionen gegenüber 2017. Die UN-Generalversammlung hat im Dezember 2018 einen Globalen Pakt für Flüchtlinge verabschiedet, um dem Trend entgegenzusteuern. Sind nach sechs Monaten schon erste Wirkungen erkennbar?

Ich denke schon. Das Konzept des Paktes wurde in Teilen bereits seit 2016 angewandt, in 15 Ländern Lateinamerikas und Afrikas erprobt. Entwicklungsakteure werden einbezogen, die auf mittel- und langfristige Entwicklung zielen. Denn traditionell ist die Flüchtlingshilfe kurzfristig auf humanitäre Hilfe orientiert, Medikamenten- und Nahrungsmittellieferung. Das ist sinnvoll, wirkt aber nur kurzfristig. In Ländern wie Äthiopien, wo es eine entwicklungsförderliche Regierung gibt, aber auch in Uganda und Kenia wurden gewisse Fortschritte gemacht. Ich will das betonen, weil es dem üblichen Narrativ entgegenläuft: Dass die Zahlen von Jahr zu Jahr steigen, die Lage immer dramatischer wird. Das stimmt, aber das Problem ist trotzdem beherrschbar. Es erfordert Zusammenarbeit, Ressourcen und guten Willen und eine Abkehr von diesem obsessiven politischen Diskurs, der Flüchtlinge als Bedrohung einstuft.

Gibt es eine Krise der Solidarität des Globalen Nordens mit dem Globalen Süden?

Es gibt bedauerlicherweise eine Krise der Solidarität in manchen Teilen der Gesellschaften in den Ländern des Globalen Nordens. 70,8 Millionen Flüchtlinge kommen auf eine Weltbevölkerung von 7,6 Milliarden. Das ist eine Herausforderung, aber eindeutig beherrschbar. Die Flüchtlinge sind keine Bedrohung, sie werden in die Flucht getrieben durch gewaltsame Konflikte und Kriege. Dass die Verteilung der Flüchtlinge oft schlecht gemanagt wurde und wird, steht auf einem anderen Blatt. Dafür ist die Politik verantwortlich.

Andererseits gibt es durchaus finanzielle Unterstützung, auch wenn wir mehr brauchen könnten. Und es gibt eine große Solidarität seitens der Zivilgesellschaften. Jenen, die sich lautstark über Flüchtlinge aufregen, stehen viel mehr gegenüber, die mit der aktuellen restriktiven Migrationspolitik in der EU unzufrieden sind und wünschten, dass die EU mehr Flüchtlinge aufnimmt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) wurde 1950 gegründet, um Flüchtlingen in Europa zu helfen. Diesen Ursprung sollten wir nicht vergessen. Und wir sollten diejenigen ermutigen, die sich für Flüchtlinge einsetzen.

Wie das Netzwerk der Solidarity Cities, der solidarischen Städte, die ihre Aufnahmebereitschaft bekunden?

Ja. Absolut alle. Kommunale Organisationen, zivilgesellschaftliche Organisationen, alle, bis hin zum einfachen Bürger. Die erwarten selbstverständlich von der Politik, dass sie die Verteilung der Flüchtlinge in einer guten Art und Weise regelt. Wenn die Menschen sehen, dass die Prozesse schlecht ablaufen, werden sie sauer. Dann sagen sie, die Flüchtlinge sind hier, um das Sozialsystem zu missbrauchen. Man kann diese Prozesse beschleunigen und effizienter machen, ohne ein Prinzip zu verletzen. Anstelle dessen wird derzeit auf eine restriktive Politik an den EU-Außengrenzen gesetzt, Abwehr, Rückführung und gehofft, dass die Zahlen sinken. Das ist keine gute Strategie.

Die EU wurde beschuldigt, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken zu lassen, um Migration zu unterbinden, nachdem die staatliche Seenotrettung auf ein Minimum gesenkt wurde. Teilen Sie diese Einschätzung?

Dazu gibt es zwei Dinge zu sagen: Das erste ist, dass die EU große Bemühungen unternommen hat, die libysche Küstenwache zu stärken. Das hat dazu geführt, dass sich weniger auf den Weg übers Mittelmeer machen, denn die libysche Küstenwache ist die einzige funktionierende Organisation in Libyen. Die Küstenwache, die legalerweise an der Küste patrouilliert, hindert laut unseren Annahmen 60 Prozent der Flüchtlinge daran, sich auf den Weg zu machen. Man könnte sagen, schön, damit werden sie an einer gefährlichen Überfahrt gehindert. Aber dann werden sie in die Auffanglager zurückgebracht, wo katastrophale Bedingungen herrschen. Und Libyen erhält keinerlei Unterstützung über die Aufrüstung seiner Küstenwache hinaus.

So ist es an wenigen zivilen Organisationen und dem UNHCR, Zugang zu den Auffanglagern zu erhalten und zu helfen, wo wir eben können. Das ist keine gute Situation. Wenn es nicht gelingt, Libyen zu befrieden, den Konflikt beizulegen, den kriminellen Banden, die die Menschen ausbeuten, das Handwerk zu legen, wird es nie eine zufriedenstellende Lösung für die Flüchtlingsproblematik geben. Und die Seenotrettung ist davon unbenommen: Es spielt überhaupt keine Rolle, ob Flüchtlinge ein Recht haben, in die EU zu kommen oder nicht. Sie müssen gerettet werden wie jeder Mensch in Not auf hoher See. Die rechtlichen Details müssen dann nach Ankunft geklärt werden. Ich halte es für einen Fehler, dass die EU ihre Seenotrettungskapazität reduziert hat. Zwar sind die Überfahrten wegen der Aufrüstung der libyschen Küstenwache gesunken, aber unter denjenigen, die die Überfahrt noch wagen, steigt die Zahl derjenigen, die es nicht schaffen und ertrinken.

Und in der Sahara sterben ebenfalls jede Menge Flüchtlinge, noch mehr als auf dem Meer…

Ja und keiner zählt sie und die Ursachen, die die Menschen in die Flucht treiben, bleiben unangepackt: Krieg, Armut, Klimawandel, Epidemien ... Das bitterarme Niger hat vergangenen Monat 20 000 Flüchtlinge aus Nigeria aufgenommen, darüber redet keiner. Würden 20 000 Flüchtlinge in die EU kommen, wäre es auf den Titelseiten. Niger kooperiert mit der EU als Transitland, aber wer kümmert sich um Niger?

Deutschland ist das einzige reiche Land unter den zehn Hauptaufnahmeländern von Flüchtlingen. Wie bewerten Sie die Migrationspolitik?

Ich bewerte sie positiv. Ich weiß sehr genau, wie kontrovers in Deutschland die Aufnahme der Flüchtlinge diskutiert wurde und wird. Die Zahlen 2015 waren sehr hoch. Meinen ersten Anruf als UNHCR-Kommissar erhielt ich vom damaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel, der um Zusammenarbeit ersuchte. Deutschland hat sich in mehreren Aspekten gut verhalten. Zum einen, weil es 2015 auf dem Höhepunkt des Krieges in Syrien bereit war, trotz politischer Widerstände, eine große Zahl an syrischen Flüchtlingen aufzunehmen. Zweitens, auch wenn man alles immer noch besser machen kann, ist der Umgang mit Flüchtlingen hierzulande, soweit ich Einblick habe, relativ gut und effizient. Der Rückstand bei der Bearbeitung der Asylanträge wird systematisch versucht, aufzuholen.

Und die anerkannten Flüchtlinge werden recht schnell ins System integriert. Und außerdem spielt Deutschland inzwischen eine wichtige internationale Rolle, die es vorher nicht spielte: Es ist inzwischen der größte Geber der UNHCR nach den USA und Deutschland treibt die Debatte in der Migrationspolitik sowohl auf europäischer als auch internationaler Ebene positiv voran, weil es auf kooperative Lösungen und Armutsbekämpfung im Globalen Süden setzt. Ich hoffe, dass diese Ansätze beibehalten werden, wer auch immer in den kommenden zehn Jahren die Entscheidungen in Berlin treffen mag.

Die EU schafft es bisher nicht, sich auf Kontingente für die Aufnahme von Flüchtlingen unter ihren Mitgliedsstaaten zu einigen. Eine Schande?

Ja, das ist eine Schande. Es ist eine Schande, weil es die Zahlen einfach nicht hergeben. Gerade mal gut 2 Millionen Flüchtlinge befinden sich in der EU, die 513 Millionen Bürger zählt. Es gab schwierige Momente, als viele ankamen, aber derzeit nicht. Es ist der Zeitpunkt, funktionierende Systeme der Verteilung in Kraft zu setzen. Klar, es gibt 28, vielleicht bald nur noch 27-EU-Staaten, da ist eine Einigung nicht einfach. Aber die Herausforderung ist eindeutig bewältigbar und in der EU mit den vielen Staaten kann das nur über Zusammenarbeit funktionieren.

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