Eine zwiespältige Beichte
Christian E. Weißgerber berichtet über seinen Ein- und Ausstieg aus der Neonazi-Szene
Aussteiger aus der Neonaziszene haben häufig etwas Unangenehmes an sich: Viele Verfasser inszenieren ihren »Ausstieg« in einer Weise, die sie erneut als »Heroen« darstellt. Das anschließende Tingeln durch Talkshows als Teil der medialen Selbstvermarktung gehört häufig dazu. Besonders unangenehm wird es, wenn langgediente Neonazis, deren »Ausstieg« monetären Motiven geschuldet war wie etwa im Fall von Andreas Molau, in Dokumentarsendungen sogar noch als »Experten« präsentiert werden.
Einige dieser Aussteiger engagieren sich danach anderweitig politisch, was in vielen Fällen »daneben« geht. Ihren Fanatismus tauschen sie häufig gegen eine neue »Selbstvergewisserung« ein, die gleichfalls totalitäre Züge trägt.
Der 1989 geborene Christian E. Weißgerber aus Thüringen gehörte bereits als Jugendlicher zur »harten« Neonaziszene. Er trat als Musiker auf, gehörte zu den Autonomen Nationalisten in Thüringen und erstellte Filme für ein Naziportal. Mit zwanzig Jahren betätigte er sich als Redner, so beim Thüringentag der »Nationalen Jugend« in Arnstadt. Diesen hatte Ralf Wohlleben, der zu Weißgerbers Bekanntenkreis gehörte, Unterstützer der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und Pressesprecher der NPD war, organisiert.
2010, während seines Studiums in Jena, verabschiedete sich Weißgerber gemeinsam mit seinem Studienfreund Steven Hartung aus der Szene. Anfangs wurden sie vom Aussteigerprogramm »Exit« unterstützt. Auch Hartung inszenierte seinen Ausstieg bereits medial: »Ich war Nazi. Ich bin raus« titelte »Superillu« im Jahr 2017. Weißgerber, der heute als Bildungsreferent mit Schwerpunkt Rechtsradikalismus tätig ist, legt ein Buch vor, das einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Er beschreibt seine »harte« Jugend in Eisenach. Sein alleinerziehender Vater, ein Elektriker, wird von ihm als ein Prototyp der autoritären Charakters beschrieben: gefühlskalt, bindungsunfähig, brutal. Seine Schwester wird vom Jugendamt aus der Familie genommen. Einsichten hat dies nicht zur Folge. Ausführlich beschreibt Weißgerber, wie er Anschluss an eine örtliche Neonazigruppe findet; sie wird zu seiner neuen Familie. Die Autonomen Nationalisten in Eisenach imponieren ihm. Sie lassen die Anfeindungen von Gegnern an sich abprallen; ihre Nazi-Parolen wie »Frei, sozial und national« erscheinen ihm als widerständig. Die Musik von Frank Reinicke sowie Regeners »Lunikoff«, angesiedelt beim völkischen Nationalismus, die Beschwörung vom »Fels in der Brandung«, saugt Weißgerber begierig auf. In der 9. Klasse verheimlicht er seine Nazigesinnung nicht mehr. Bald macht Weißgerber beim örtlichen »Pakt volkstreue Jugend« mit, tritt als Sänger auf, covert Songs der Naziband Stahlgewitter.
Wer vom Buch intimeren Einblick in die Strukturen der Naziszenen erwartet, wird enttäuscht. Weißgerber beschreibt nur seine Begegnungen mit dem NPD-Kader Patrick Wieschke und einige Treffen mit Wohlleben. Erste Befragungen durch den Staatsschutz - schon als Schüler - empfand Weißgerber als Initiationsritus. Mit 16 legte er sich, nach Begegnungen mit »Zeitzeugen«, eine üppige geschichtsrevisionistische Bibliothek zu.
Weißgerber verknüpft seine Schilderungen der Szene durchgehend mit später gewonnenen Erkenntnissen und Interpretationen. Lesenswert sind die Passagen über seine Zeit in der Bundeswehr, die bekanntlich seit langem ein Problem mit rechten Tendenzen in ihren Reihen hat. Weißgerber wird wegen nazistischer Äußerungen jedoch vorzeitig entlassen. Einblicke gewährt der Autor auch in die Dortmunder Naziszene. Zwei Wochen vor der Großdemonstration 2009 zog Weißgerber in eine Nazi-WG, um sich an den täglichen, gezielt Ängste schürenden Aktionen in der Stadt zu beteiligen. Er war bei den provokativen Störungen von Veranstaltungen durch Michael Brück, heute stellvertretender NRW-Landesvorsitzender der Kleinpartei »Die Rechte«, dabei, der diese intern als eine Anknüpfung an die Saalschlachten in der Weimarer Republik verherrlichte. Als 21-Jähriger verließ Weißgerber, während seines Studiums, die Naziszene. An der Universität habe er sich nicht mehr isoliert gefühlt.
Christian E. Weißgerber: Mein Vaterland. Warum ich ein Neonazi war. Orell Füssli, 256 S., br., 18 €.
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