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Recht und Wirklichkeit
Gesetze allein schützen nicht vor autoritärer Politik - weder in Weimar noch Berlin.
Die einen vergessen sie über den siebzigsten Geburtstag des Grundgesetzes, die anderen über den hundertsten der einzigen erfolgreichen deutschen Revolution. Doch ohne die Weimarer Reichsverfassung (WRV) sind beide Jubiläen nicht vollständig. Beschlossen am 31. Juli 1919 war die Weimarer Verfassung ein Ergebnis der Revolution. Und ohne sie - und vor allem ohne ihr Scheitern - ist das heutige Grundgesetz (GG) nicht zu denken.
»Die Würde des Menschen ist unantastbar«: So beginnt nicht nur das Grundgesetz; auch die UN-Menschenrechtscharta und die Grundrechtecharta der EU stellen diesen Wert an ihren Anfang. Den Schutz der menschlichen Würde als elementarsten Wert der Grundrechte zu begreifen, ist eine Konsequenz aus der Entwürdigung, Erniedrigung, Versklavung, aus der Auslöschung der menschlichen Subjektivität in den deutschen Konzentrationslagern.
Weimar - Bonn - Berlin
»Bonn und Berlin sind nicht Weimar,« heißt es oft. Gemeint ist damit nicht selten die Annahme, dass das Grundgesetz ein Abgleiten in die Barbarei ausschließt, dass das Grundgesetz die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen hat und die Machtübernahme autoritärer Parteien verhindert.
Bei genauem Hinsehen, zeigt sich jedoch, dass schon bei jener ersten Prämisse des Grundgesetzes Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit häufig auseinanderfallen. Ein Beispiel dafür sind die steigenden Zahlen der Wohnungs- und Obdachlosen. Mit dem Schutz ihrer Würde ist es oft nicht allzu weit her, das Recht funktioniert hier nicht.
Dabei hält das Grundgesetz - anders als die Weimarer Reichsverfassung - in Form der Verfassungsbeschwerde einen Mechanismus bereit, der helfen soll, individuelle Grundrechte durchzusetzen. Dieses Instrument, was in der Bundesrepublik oft genutzt wird und oftmals auch zu Korrekturen des Gesetzgebers und der staatlichen Praxis führt, wurde im Zuge der Notstandsgesetzgebung 1968 in den Katalog der Klagerechte aufgenommen. In diesem Kontext klingt die Aufnahme der Verfassungsbeschwerde ins Grundgesetz eher nach einem Kuhhandel: Zwar wird die Verfassungsbeschwerde garantiert, aber nur mit der Möglichkeit, Grundrechte im »Notstand« auch einschränken zu können. Das Vorbild des US-amerikanischen Supreme Courts spielte dabei wohl eine größere Rolle als die viel zitierten Lehren aus Weimar.
Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), verfassungswidrige Parteien verbieten zu können gilt in Deutschland als Ausdruck der »wehrhaften Demokratie«. Doch dieses Instrument hat sich das Gericht mit dem NPD-Urteil selbst aus der Hand geschlagen. Solange die Partei außerstande sei, ihre verfassungswidrigen Ziele mit parlamentarischen Mitteln zu erreichen, solle sie nicht verboten werden. Doch sollte ein solcher Fall einmal eintreten, könnte es längst zu spät für ein Verbot sein. Der Blick in andere Länder, wie etwa Polen, schürt Zweifel, ob ein Verfassungsgericht tatsächlich effektiv vor einer autoritären Wende der Regierung schützen kann. Denn letztlich ist es nicht das Gericht, dass Zugriff auf das Gewaltmonopol des Staats hat.
Als die zentrale Lehre aus Weimar wird jedoch die Verringerung der Macht des Staatsoberhauptes bezeichnet. In der Tat war der Reichspräsident in der Weimarer Republik deutlich mächtiger, als es der heutige Bundespräsident ist. Der Reichspräsident wurde direkt vom Volk gewählt, er war der Oberbefehlshaber der Wehrmacht und konnte ohne Begründung den Reichstag auflösen. Er ernannte den Reichskanzler; und vor allem konnte er alle »nötigen Maßnahmen treffen«, um Sicherheit und Ordnung herzustellen, »erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten.« Auf diesen Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung stützen sich die berühmten Notverordnungen des Reichspräsidenten, die ebenso wie die vielen Auflösungen des Reichstags die Weimarer Demokratie zwar aushöhlte, aber noch nicht beseitigte.
Adolf Hitler wurde im Januar 1933 in einem Kabinett zum Reichskanzler gewählt, in dem die NSDAP-Minister in der Minderheit waren, obschon die NSDAP stärkste Partei im Reichstag war. Seine Ernennung verstieß damit nicht gegen die demokratischen Regeln des Parlaments - die er im folgenden Wahlkampf außer Kraft setzen sollte. Und auch heute böte die geschwächte Stellung des Bundespräsidenten im Grundgesetz keinen Schutz vor einer autoritären Regierung, die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Käme es dazu, dass der Kandidat einer rechtspopulistischen Partei mit absoluter Mehrheit zum Kanzler gewählt würde, wäre der Bundespräsident verpflichtet, ihn zum Kanzler zu ernennen. Nur in dem Fall, dass der Kanzler erst im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt werden würde, könnte der Bundespräsident sich entscheiden, ob er den Kanzler ernennt oder den Bundestag auflöst. Blickt man in die Nachbarländer, sind es gelegentlich die Präsidenten, die damit zögern, nationalistische Regierungen zu ernennen.
Wesentliches im Gesetz
Das Ermächtigungsgesetz von 1933 gilt als wesentlicher Schritt, mit dem Hitler den Reichstag ebenso entmachtete wie den Reichspräsidenten, weil nun Regierungsverordnungen über »Recht« gesetzt wurden. Das Grundgesetz sieht deshalb vor, dass Rechtsverordnungen der Regierungen nur aufgrund eines Gesetzes erlassen werden können, das »Inhalt, Zweck und Ausmaß« der Ermächtigung bestimmt. Eine Generalermächtigung oder ein Ermächtigungsgesetz sollen so ausgeschlossen sein. Das Wesentliche soll nach diesem Verständnis des Demokratieprinzips im Gesetz stehen.
Das ist aber keineswegs immer der Fall. Das Wesentliche etwa des Emissionsschutzrechts, nämlich die konkreten Grenzwerte für Lärm- und Luftverunreinigung, findet man in rund vierzig Rechtsverordnungen. Ähnliches gilt für die Straßenverkehrsordnung, eine ministeriale Verordnung mit einer vergleichsweise dünnen gesetzlichen Ermächtigung. Nun sind diese Beispiele weit entfernt von Hitlers Ermächtigungsgesetz. Doch sie zeigen, dass die Grenzen des Artikel 80 im Grundgesetz nicht prinzipiell vor der Machtkonzentrationen durch eine (autoritäre) Regierung schützen.
Polarisierung der Gesellschaft
Das Grundgesetz kennt - anders als alle Landesverfassungen und anders als die Weimarer Reichsverfassung - keine Volksgesetzgebung, also Volksbegehren und Volksentscheide. Zur Begründung wird erklärt, die Weimarer Verfassung und Republik seien an zu viel direkter Demokratie gescheitert. Dieses Argument hat eine gewisse Plausibilität, wenn man damit die Direktwahl des Präsidenten meint, dessen Legitimation durch das Volk - etwa von Carl Schmitt - gegen die Legitimation des Parlaments in Stellung gebracht wurde. Konsequenterweise hätte man in der 1990er Jahren die Kommunalverfassungen nicht vereinheitlichen und überall die Direktwahl des Bürgermeisters einführen dürfen. Aber die Weimarer Republik ist sicher nicht an der Volksgesetzgebung gescheitert. Auf Reichsebene gab es dazu nicht weniger als sieben Anläufe, vier wurden als unzulässig verworfen, die anderen drei scheiterten an den Abstimmungsquoren.
Klügere Köpfe argumentieren deshalb, dass Volksabstimmungen zu einer Polarisierung führen, die die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen unterminiert. In der Tat braucht Demokratie ein gewisses Maß an sozialer Konsistenz, also ein Mindestmaß an ähnlichen Lebensverhältnissen, die es allen noch ermöglicht, demokratische Entscheidungen gegen die eigene Meinung zu akzeptieren. Das schließt übermäßige Ungleichheit ebenso aus wie krasse Egomanie.
Die Weimarer Reichsverfassung etablierte Betriebsarbeiterräte und Wirtschaftsräte auf betrieblicher, Bezirks- und auf Reichsebene. Sie gebot eine Form von Wirtschaftsdemokratie. Im Grundgesetz finden sich derlei Gebote nicht. Zwar ermöglicht Artikel 15 die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln und eine Gemeinwirtschaft, gebietet sie aber nicht. Und Verfassungsrealität ist der Artikel - zumindest bisher - nicht geworden. Sozialstaatsprinzip und Menschenwürde verdichten sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich zu einem Grundrecht auf ein »soziokulturelles Existenzminimum«. Soziale Konsistenz ist damit keineswegs hergestellt - die Entwicklung läuft eher in die umgekehrte Richtung.
Doch auch in Weimar wurden die Bezirkswirtschaftsräte nicht gegründet, der Reichswirtschaftsrat blieb ein vorläufiger und wurde von den Unternehmern und der Verwaltung boykottiert. So wird das eigentliche Problem sichtbar: Eine demokratische Verfassung funktioniert nur mit gelebter Demokratie und braucht Demokraten, die sich in sozialen Auseinandersetzungen an demokratische Regeln halten. In den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen müssen Demokraten dominieren.
Eine Verfassung allein sichert die Demokratie nicht, das gilt für die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie für die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika oder die Verfassungen unserer europäischen Nachbarländer. Der Normtext allein sichert nicht gegen autoritäre Wendungen, es braucht eine demokratische Kultur. Diese fehlte in der Weimarer Republik.
Die Eliten der Bundesrepublik stehen noch zum demokratischen Konsens, aber dieser zerfasert - in ganz Europa -, weil die soziale Konsistenz angegriffen wurde.
Andreas Fisahn ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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