Generation 60+

Leo Fischer über Leute, die vom Wegsterben der SPD profitieren und ihr nun nachweinen

»Die Generation 60+ dreht gerade komplett durch«, sagte mir unlängst ein Angehöriger ebenjener, der gerade vergebens nach einer Möglichkeit sucht, aus seiner Alterskohorte auszutreten. Und es stimmt: Wohin man schaut, flippt wieder einer aus. Der nette Liberalo-Greis, der noch vor zwei Jahren sanft abwägende Leitartikel schrieb, stiefelt heute enthemmt gegen »Political Correctness«; die schrullige Literatin, die Lyrismen über Katzen und den Dreißigjährigen Krieg drechselte, gibt heute ungefragt Stellungnahmen zum Binnen-I ab. Cartoonisten, die mal frech und dagegen sein wollten, verwahren sich, wenn junge Leute mal irgendwas anders machen wollen oder, Allmächt’!, die eigene Bildwelt als veraltet, gar kritikwürdig empfinden.

Zentrales Feindbild ist dabei eine als bedrohlich empfundene Generation junger Leute, die, an den Torhütern der gedruckten Meinung vorbei, »Shitstorms organisieren«, auch sonst alles viel zu eng sehen und weiß Gott gar bedenklichen politischen Ideologien wie Feminismus oder Umweltschutz anhängen. Das Standardargument der Generation 60+ ist dabei das »Ich war doch dabei«, das alles Nachfolgende als schlechte Kopie und Verfall des Echten darstellt: Feminismus war gut, als ich ihn noch gemacht habe, das heute ist kein echter Feminismus. Das ist kein echtes Engagement, das ist kein echter Aktivismus: Echt ist nur, woran die Generation 60+ einst teilgenommen hat oder heute noch ausnahmsweise teilzunehmen geruht.

Ein Lied des Berliner Komikartisten FIL heißt: »Ich will nicht so werden wie mein Sohn.« Alle empfinden sie sich als Renegaten wider die junge Generation, als Rebellen gegen die eigenen Kinder.

Der »Welt«-Chefredakteur Ulf Poschardt sieht in Greta Thunberg gar die »altmodischen, bösen Lehrer« seiner eigenen Jugend wiedergeboren, und spätestens hier gehörte eine ganze Generation eigentlich auf die Couch: die Generation jener Baby-Boomer, um die sich jahrzehntelang alles gedreht hat, zur ewigen Jugend und zu unerschütterlichem Rebellentum verdammt, denen nun, da sie an allen Schalthebeln öffentlicher und wirtschaftlicher Macht sitzen, die Feindbilder ausgehen und die sich folglich, wie ein Hausvater der 50er, an den eigenen Kindern abreagieren müssen.

Sie tun es aber nicht nur in Kolumnen, in denen sie sich darüber mokieren, dass plötzlich alle trans sein wollen. Sie tun es auch explizit politisch. Die Leute, die im üppigen Sozialstaat West der 70er groß wurden, die ihre Karrieren auf Bafög, Sozialprogrammen und den Errungenschaften der Protestgeneration gründeten, wählten dann jahrelang neoliberal, weil sie nicht nur Steuern sparen, sondern auch die Leiter wegstoßen wollten, auf der sie selbst nach oben gekraxelt waren.

Heute, wo die Neoliberalen den Staat für sie abgetragen haben, beklagen sie den Verlust einer Ordnung, die sie selbst abwählten, rufen nach Polizei und einer harten Hand - nicht zuletzt auch gegen die junge Generation, die sie zu einer ewigen Praktikantenexistenz verdammen wollen, zu Konditionen, zu denen sie selbst früher morgens nicht mal aufgestanden wären. Als Profiteure des Wegsterbens der Sozialdemokratie weinen sie ihr mit Krokodilstränen hinterher und wählen dann, wo sie nicht eh schon offen rechts sind, Lemuren wie Olaf Scholz, vor dem garantiert niemand Angst haben muss, am wenigsten die Wirtschaft.

Sie ertragen es letztlich nicht, dass neben ihnen noch jemand jung sein kann, sie waren es ihr ganzes Leben lang und verteidigen ihr Recht auf konformistische Rebellion gegen Phantomgegner. Dabei wünscht man ihnen nichts Schlechtes. Nur das ihr Grauslichste: einen ruhigen Lebensabend.

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