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Von Feinden umgeben
Die Türkei droht, in Nordsyrien einzumarschieren. In Rojava bereiten sich Zivilisten darauf vor
Es ist ein ruhiger Nachmittag in dem kleinen Dorf nahe Dêrik, einer mehrheitlich kurdisch bewohnten Stadt im Norden Syriens, nahe der türkischen und der irakischen Grenze. Rund ein Dutzend Frauen warten im Haus der Kommunenvorsitzenden. Die meisten stammen aus der Region, ihre Familien leben von der Viehzucht. Einige mussten aus Afrin oder Shengal hierher flüchten. Die Frauen sind zwischen 17 und 25 Jahre alt. Ein paar tragen traditionelle Kleidung und ihr Haar ist bedeckt, andere sitzen im T-Shirt und ohne Kopftuch in der Runde. Sie diskutieren über den Krieg und die Möglichkeit, bald zur Waffe greifen zu müssen. Die Türkei droht Nordsyrien seit Wochen mit einer Invasion. Zehntausende Soldaten warten auf einen Einmarschbefehl, nur wenige Kilometer von hier entfernt.
Die Ausbilder der Frauen sind Heval Jiyan - Heval bedeutet im kurdischen Freundin oder Genossin - und Abu Joel. Beide sind in der Leitung der örtlichen Selbstschutzeinheiten HPC. Ihr Erkennungszeichen: Eine braune Weste mit einem Abzeichen über der Kleidung. Abu Joel trägt darunter eine knopflose Jacke, weite Hosen und gefälschte Adidas-Sneakers. Jiyan eine schlichte dunkle Bluse, über dem Haar ein Tuch. Bevor es losgeht, muss Joel jedoch plötzlich weg: »Mein Sohn heiratet heute. Hab’s ganz vergessen!« Er sei ein bisschen durcheinander bei der ganzen Arbeit, die so anstehe. Alle lachen.
Heval Jiyan übernimmt also die Ausbildung und stellt die Kalaschnikow vor. Sie beschreibt sie nicht nur als Werkzeug, sondern als eine Waffe mit Geschichte. Eine Geschichte des Widerstands und der Revolutionen. Danach gehen die Schülerinnen ans Werk. Die jungen Frauen sind mit Eifer dabei, motivieren sich gegenseitig. Jede muss einmal die Waffe zerlegen und wieder zusammensetzen. Feder, Gaskolben, Verschluss und Feuereinheit werden sorgfältig geölt. Die Frauen sind schnell und präzise.
Auch beim Schießen. Der Umgang mit den Waffen wirkt sicher. Drei Schuss gibt jede Teilnehmerin auf eine leere Blechdose ab. Die Stimmung ist heiter und professionell. Jiyan muss kaum Anweisungen geben. Nachdem sich die Frauen an den Rückstoß der Kalaschnikow gewöhnt haben, gibt es kaum noch Fehlschüsse. Bei Unsicherheiten hilft man sich gegenseitig.
Für die meisten der Versammelten ist es nicht das erste Mal, dass sie eine Waffe in der Hand halten. Sie alle haben die Kämpfe im Shengal-Gebirge miterlebt, sie spielten sich nur eine kurze Autofahrt entfernt von hier ab. Kurdische Kämpfer hatten sich hier 2015 den Dschihadisten des Islamischen Staates in den Weg gestellt, als sie die Region angegriffen hatten. Ihr Ziel: Die Volksgruppe der Jesiden zu versklaven und umzubringen. Die kurdischen Milizen erkämpften in zähen Gefechten einen Korridor, Tausende konnten gerettet werden. Vielleicht waren nicht alle der beim Training anwesenden Frauen an der Front. Sie kennen jedoch den Krieg und wissen, was er einer Gesellschaft abverlangt.
Die HPC sind die sogenannten gesellschaftlichen Schutzeinheiten. Sie organisieren sich innerhalb ihrer lokalen Kommunen, der kleinsten Verwaltungseinheiten Rojavas, die meist einige Straßenzüge umfasst. Ihre Mitglieder kennen die Probleme in der Nachbarschaft. Im sogenannten Demokratischen Konföderalismus, der in Nord- und Ostsyrien 2012 als neues Gesellschaftsmodell etabliert worden ist, besteht der Vorsitz jeder Institution aus einer Frau und einem Mann. Es gibt viele komplett autonome Frauenorganisationen, etwa die HPC-Jin (kurdisch für Frau). Die HPC-Jin hat ihr eigenes Zentrum, nicht weit vom Dorf entfernt.
Die gesellschaftlichen Schutzeinheiten sind eigentlich zivile Institutionen, in Kriegszeiten werden sie jedoch auch genutzt. »Wenn der Krieg kommt, verteidigen wir uns. Wo sollen wir auch hingehen? Wir sind umringt von Feinden«, sagt Jiyan. Für den Ernstfall organisiert sie die Verteidigung der Nachbarschaft gemeinsam mit den professionellen Streitkräften der YPG und YPJ-Milizen.
Kleine Pause vom Schießtraining. Bei einem Tee berichtet Jiyan von den speziellen Aufgaben der HPC-Jin. Diese umfassen vor allem den Schutz der Frauen und Mädchen in der Gesellschaft. Die Mitglieder reden mit Vätern und Ehemännern, die ihre Frauen nicht aus dem Haus lassen oder ihre minderjährigen Töchter zwangsverheiraten wollen. Sie versuchen, die Konflikte gewaltfrei dort zu lösen, wo sie entstehen. Als Frauenschutzorganisation nehmen sie jedoch immer die Position der Frau ein. Oft versuchen sie auch zu vermitteln und Überzeugungsarbeit zu leisten. Sie wissen, dass ihr Gegenüber verstehen muss, dass Frauen nun die gleichen Rechte besitzen.
Gesetze, die die Rechte der Frauen schützen, gibt es im nordsyrischen Autonomiegebiet bereits viele. Zwangsehen sind mittlerweile verboten und auch Mehrfachehen sollen in Rojava nicht mehr geschlossen werden. Gesetze allein sind jedoch keine Lösung. Noch wichtiger ist die Überzeugungsarbeit. »Wenn es Probleme gibt, diskutieren wir«, meint Jiyan selbstbewusst.
Witze werden gemacht, kleine Kinder spielen zwischen ihren Müttern, Getränke werden weitergereicht. Von Anspannung ist trotz der drohenden Invasion durch die Türkei nicht viel zu spüren. Während Jiyan spricht, kommen immer wieder Menschen in den Innenhof des Zentrums. Vor allem ältere Frauen, ab und zu auch ein Mann. Sie setzen sich an Tische und unterhalten sich mit Mitgliedern der HPC-Jin. Das Zentrum hat eher den Charakter eines offenen Teehauses, in dem die Fragen der Nachbarschaft diskutiert werden, als den eines Hauptquartiers von Sicherheitskräften.
Auch Jiyan hatte vor der Revolution Probleme mit ihrem Mann: »Wir konnten damals ohne unsere Ehemänner nicht einmal das Haus verlassen«, sagt sie. Nach der Revolution kamen jedoch die YPJ-Kämpferinnen. Und mit ihnen Frauenhäuser, Frauenräte und das System der Ko-Vorsitzenden. Die Kämpferinnen aus den Bergen Kurdistans hätten sie auch vor der Revolution schon fasziniert, berichtet Jiyan. Doch eine ähnliche Organisierung von Frauen sei in Syrien nicht vorstellbar gewesen, bis die YPJ den Kampf gegen den IS aufnahmen: »Dass die Frauen da waren, mit Waffen gegen den IS gekämpft, mit den Menschen diskutiert und gelebt haben, das hat einiges bewegt.«
Jiyan sagt, sie habe mit ihrem Mann auch lange diskutieren müssen, bevor sie politische Arbeit leisten konnte. Nun sei es jedoch normal geworden, dass sie jeden Morgen zum Zentrum der HPC-Jin gehe. »Früher fragte er mich immer: Wohin gehst du? Was machst du? Mit wem triffst du dich?« Jetzt sei alles klar. »Ich sage, ich gehe zum Zentrum. Das ist unser Ort, hier organisieren, bilden und trainieren wir uns.« Diejenigen Männer, die das Konzept der Frauenbefreiung nicht verstehen, behielten ihre Frauen jedoch weiter zu Hause. »Viele der Männer sind leider noch etwas schwer von Begriff«, sagt sie lachend. Es gebe noch Arbeit.
Tatsächlich stehen den Erfolgen der Frauenbewegung in Syrien ebenso große Herausforderungen gegenüber. Besonders in den ehemaligen IS-Hochburgen hat die dschihadistische Ideologie auch nach dem Untergang des Kalifats, das der IS ausgerufen hatte, ihre Spuren hinterlassen. Je tiefer man ins ehemalige Kerngebiet des IS reist, desto weniger Frauen sind auf den Straßen. In der Provinz Deir ez-Zor wurden die Islamisten im März zwar als Territorialmacht geschlagen, doch die menschenverachtende Ideologie ist aus den Köpfen nicht verschwunden. Noch immer gibt es hier zahlreiche Schläferzellen. Allein im Juli kam es zu 48 Terroranschlägen in dem Gebiet.
Für Jiyan hat sich durch die Revolution ihr Leben grundlegend verändert. Nun hilft sie auch anderen Frauen dabei, sich zu befreien: »Natürlich bin ich gerne Mutter und Hausfrau, aber das ist nicht mein ganzes Leben«, sagt sie entschieden. »Wie ich meine Kinder liebe und für sie sorgen, sie beschützen will, so liebe ich doch auch meine Gesellschaft und will sie ebenfalls beschützen.«
Bei der Rückfahrt von der Waffenausbildung kommt die Frage auf, ob die Menschen in Nordsyrien die türkischen Kriegsdrohungen überhaupt ernst nehmen. »Doch schon«, sagt ein Mitfahrer. Es sei nur so, dass es hier eben ständig Krieg gebe. »Kämpfer aus dem Dorf sind in Raqqa gefallen, im Shengal, in Afrin.« Die Hälfte der Menschen, die hier leben, sei selbst von irgendwoher geflüchtet. »Der Krieg verfolgt uns Kurden. Aber das Leben geht weiter«, sagt er. In Dêrik angekommen, hält das Auto vor einem Hochzeitssaal. Abu Joel kommt lächeln heraus, um sich zu verabschieden. Die Frauen fahren wieder nach Hause.
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