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Die Deutungsmacht verloren

Frühere Wähler der LINKEN haben sich in Sachsen und Brandenburg nun für unterschiedliche Parteien entschieden

  • Horst Kahrs
  • Lesedauer: 5 Min.

In groben Zügen, ungeachtet vereinzelt bedeutsamer regionaler Besonderheiten, lässt sich die Wahlgeschichte für die LINKE in drei Phasen einteilen. Seit ihren Hochzeiten 2008-2010 als Sammlungsbewegung gegen die Agenda-2010-Politik hat die LINKE in mehreren Wellen an Zustimmung verloren. Von 2010 bis 2014 kehrten ihr viele den Rücken, die 2009 hofften, mit einer Proteststimme für die Linkspartei die SPD wieder zu sozialdemokratischer Politik zu motivieren bzw. diese mit Hilfe der LINKEN wieder durchsetzen zu können. Von 2014 bis 2017 verlor die LINKE in den neuen gesellschaftspolitischen Konflikten, die sich am Katalysator »Zuwanderung« entzündeten. Nach 2017 verliert sie an Zustimmung, weil die Funktion des gesellschaftspolitisch-kulturellen Gegenpols zur AfD von den Grünen und machtpolitisch von der jeweils stärksten Partei besetzt ist. Jüngere Menschen, die 2014-2017 zur LINKEN fanden, wenden sich ab. Das liegt auch an der wachsenden Bedeutung der Klimapolitik für ihre Wahlentscheidung.

Bei der allfälligen Rückkehr der Politik in den Alltag geht es seit 2014 immer stärker um große, bundesweite gesellschaftspolitische Fragen: Wohin soll die Reise wie gehen? Deshalb ereilt die Linkspartei in Sachsen als ewige Oppositionspartei und in Brandenburg als zehnjährige Regierungspartei das gleiche Schicksal. Bereits bei der Bundestagswahl 2017 gab es in beiden Ländern ein Tief gegenüber der PDS Mitte der 1990er Jahre. Bei der Wahl zum EU-Parlament stand als »Schrift an der Wand«: 12,3 Prozent in Brandenburg, 11,7 Prozent in Sachsen. Nun gingen, bei um zwei bis drei Prozent höherer Wahlbeteiligung, absolut nochmals Stimmen verloren: 8,9 Prozent in Brandenburg und 6,7 Prozent in Sachsen. Bundes- und Landesebene gehen Hand in Hand. Mit Blick auf eine kommende Bundestagswahl heißt das: Es geht um die parlamentarische Existenz.

Leider modellierte Infratest dimap keine Wählerstromkonten im Vergleich zur EU-Wahl, sondern zur Landtagswahl 2014, so dass schon 2017 und im Mai 2019 erfolgte Abwendungen von der Linkspartei als neu erscheinen. Gleichwohl geben die Zahlen einige Hinweise. In beiden Ländern zusammen gingen 275 000 Stimmen verloren, die Wiederwählerquote lag bei niedrigen 44 Prozent. Unter den Verlusten waren 18 Prozent Verstorbene, 10 Prozent Fortgezogene und 9 Prozent Nichtwähler. 18 Prozent gingen zur SPD, 14 Prozent zur AfD, 12 Prozent zur CDU, 10 Prozent zu den Grünen und 11 Prozent zu anderen Parteien. Die wichtigsten Gruppen unter den 144 000 zugewanderten Stimmen sind: 42 Prozent Nichtwähler, 14 Prozent Zugezogene, 11 Prozent Erstwähler, von SPD 17 Prozent und CDU 8 Prozent. Diese Zahlen verweisen auf die Vielfalt der möglichen Motive eigensinniger Wählerinnen und Wähler und auf die mangelnde Fähigkeit (nicht nur) der Linkspartei, solche unterschiedlichen Mentalitäten und Motivlagen dauerhaft in einem dann eher ideologisch geprägten Lager zu binden. Angesichts wachsender Wechselbereitschaft muss die Position und Funktion in veränderten gesellschaftspolitischen Konfliktlagen immer wieder neu justiert und zugleich in ihrem ideologischen Kern erkennbar bleiben.

Nichts zeigt diese Herausforderung besser als die Kompetenzzuschreibungen an die LINKE. Bei den Themen »Soziale Sicherheit«, »Soziale Gerechtigkeit«, »Sorgen/Nöte der Ostdeutschen« und »vertritt am ehesten die Interessen der Ostdeutschen« erhält die LINKE mit 21-26 Prozent der Befragten in beiden Ländern jeweils die höchsten Kompetenzwerte. Es waren aber offensichtlich nicht die wahlentscheidenden Themen. Auch unterscheidet der Alltagsverstand davon die Themen »Wirtschaft und Arbeit« sowie »Löhne und Renten«. Ein ostdeutsches Lebensgefühl, etwa »Bürger zweiter Klasse« zu sein, ist unter den Anhängern aller Parteien teils mehrheitlich verbreitet, am stärksten bei Linkspartei und AfD, am schwächsten bei Grünen und CDU. Auch »Ost« war offenbar kein Thema, an dem ein wahlentscheidender Unterschied gemacht wurde. »Soziale Sicherheit« war wahlentscheidend für etwa ein Drittel der LINKE-, ein Fünftel der SPD- und ein Sechstel der CDU-Wähler, bei der AfD in Sachsen bei jedem zehnten. »Zuwanderung« spielte bei der Entscheidung für die AfD mit 30 Prozent die größte Rolle. »Umwelt und Klima« waren überragend entscheidend bei den Grünen, Bildung und Schule bis auf die AfD bei allen Parteien für mindestens ein Sechstel wahlentscheidende, »Wirtschaft und Arbeit« spielten bei SPD, CDU und FDP mit gut einem Fünftel eine große Rolle, »Kriminalität und Innere Sicherheit« mit 20 Prozent bei der AfD, aber auch »Löhne und Rente« mit 14 Prozent in Brandenburg. Dieses Verhalten lässt sich in die handelsüblichen Interpretationsmuster schwerlich einfach einordnen.

In diesem Sinn aufschlussreich ist der Blick auf die »wichtigsten Probleme im Land«: »Infrastruktur« dominiert in Brandenburg (28 Prozent, Sachsen 15 Prozent), »Schule/Bildung« und damit die Zukunftsaussichten der Kinder werden jeweils von etwa einem Fünftel priorisiert, »Klima/Umwelt«, »Arbeitslosigkeit« und »Ausländer/Flüchtlinge« jeweils von gut jedem Zehnten, in Sachsen Letzteres von fast einem Fünftel. In Sachsen nennt ein Sechstel auch »AfD/Rechte« als wichtigstes Problem. Die Linkspartei hat hierbei relativ hohe Kompetenzwerte bei »Bildung« und »Lebensverhältnisse Stadt/Land«.

Fazit: Die LINKE verliert in unübersichtlicher Gemengelage. Ihre klassischen Themen haben in sozioökonomischen Umbruch-Situationen und in neuen gesellschaftspolitischen Debatten für viele ehemalige Wählerinnen und Wähler ihre Deutungsmacht verloren und damit auch das Zutrauen, Probleme angehen, ungewollte Veränderungen der halbwegs eingerichteten Lebenswelt abwehren und eine bessere Zukunft mitgestalten zu können. Daher ist es folgerichtig zu fordern, »strategische, programmatische und weitere Grundfragen zu stellen und zu beantworten«.

Teil des Problems ist aber, dass von 2015 bis 2017 eine solche Grundsatzdebatte, die tiefe gesellschaftliche Konflikte spiegelte, innerparteilich ohne Gewinn ausgetragen wurde. »Politisch repräsentieren« heißt nicht, Stimmungen und Interessenlagen einfach widerzuspiegeln, sondern Vorschläge zu machen, wohin und nach welchen Regeln sich Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln sollen; Vorschläge, hinter denen sich unterschiedliche Teile eines sozial heterogenen »Volkes« versammeln können: gesellschaftspolitische Richtungen, Ziele und Wegmarken in vielfältigen Umbrüchen, mit denen Bürger und Bürgerinnen klarkommen müssen.

Horst Kahrs ist Referent am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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