- Politik
- Gefangenenaustausch
Kiews Großerfolg mit Beigeschmack
Russland und Ukraine tauschen Gefangene aus, Staatschef Selenskyj will weitere Verhandlungen mit Putin
Es ist eine bewegende Szene, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag am Kiewer Flughafen Boryspil auf 35 aus Russland zurückgekehrte Gefangene trifft. Der 41-jährige Ex-Komiker will auf dem Militärflugplatz jedem die Hand schütteln. Doch nicht bei allen klappt das, weil einige gleich beim Ausstieg aus dem ukrainischen Regierungsflugzeug zu ihren Verwandten rennen. Viele, wie der Filmemacher Oleh Senzow, der wegen der angeblichen Vorbereitung eines Terroranschlags auf der Krim zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, haben seit fünf Jahren ihre Familien nur bei seltenen Angelegenheiten im Gefängnis gesehen - im Senzows Fall in der Kleinstadt Labytnangi am Polarkreis. Unter den 35 Ukrainern sind auch 24 Marinesoldaten, die im November 2018 von Russland vor der Straße von Kertsch neben der Krim festgenommen wurden.
Der neue ukrainische Präsident lässt sich für den lang ersehnten Gefangenenaustausch mit Russland medial feiern, will aber nicht den Eindruck erwecken, dies wäre einzig und alleine sein Sieg. Während am Boryspil die Journalisten den Präsidenten, weitere Beamte und die freigelassenen Gefangenen belagern, herrscht am Moskauer Flughafen Wnukowo zur gleichen Zeit ein völlig anderes Bild. Auch dort sind 35 Personen im Rahmen des Austauschs gelandet, begleitet wird die Landung eines russischen Flugzeuges lediglich durch eine Kamera des Staatsfernsehens. Empfangen wird nur der prominenteste Gefangene, der russisch-ukrainische Journalist Kyrylo Wyschynskyj, der den ukrainischen Ableger der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti leitete. Und zwar vom RIA Nowosti-Chef und Fernsehmoderator Dmitrij Kisseljow, der als Russlands Chefpropagandist gilt, sowie der RT-Chefin Margarita Simonjan.
Der letzte Gefangenenaustausch, damals zwischen der Ukraine und den prorussischen Separatisten im Donbass, fand im Dezember 2017 statt. Seit Selenskyjs Amtseintritt im Mai haben sich die Gespräche intensiviert. Im Juli und Anfang August hat Selenskyj zweimal mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin telefoniert, das August-Treffen Putins mit dem französischen Präsidenten Emanuel Macron soll schließlich den Auftakt für die Endphase der Verhandlungen gegeben haben. »Der russische Präsident Putin und ich haben alles gemacht, was möglich war«, betonte Selenskyj am Freitag.
Leicht waren die Gespräche nicht, zumal der angeblich erste Versuch des Austauschs noch am 30. August platzte. Russland ging es dabei vor allem um die Personalie Wolodymyr Zemach, einen ukrainischen Staatsbürger, der für die Luftabwehr der selbsternannten Volksrepublik Donezk tätig war. Zemach soll nach eigenen Angaben die beim Abschuss des Flugs MH17 verwendete Buk-Rakete später versteckt haben, weswegen er zumindest als wichtiger Zeuge gilt. Vor wenigen Monaten wurde Zemach von ukrainischen Sicherheitsbehörden bei einer spektakulären Operation direkt aus dem Separatistengebiet entführt. Dass er nun nach Russland abgegeben wurde, sorgt für viel Kritik.
So haben die niederländischen Ermittler, die den Fall MH17 untersuchen, die Ukraine extra darum gebeten, Zemach nicht nach Russland auszuliefern, damit er ansprechbar bleibt. Zwar konnten sie Zemach vor dem Austausch in der Ukraine befragen, trotzdem äußerte das niederländische Außenministerium Bedauern über das Vorgehen. Selensky hingegen sieht in dem Austausch einen wichtigen Schritt. »Es ist der erste Schritt zur Deblockierung der Beziehungen mit Russland und zur Beendigung des Donbass-Krieges«, so der ukrainische Präsident, der später am Freitag noch mit Putin telefonierte.
In diesem Sommer hat die Ukraine gemäß eines Abkommens von 2016 ihre Truppen aus der Kleinsiedlung Stanyzja Luhanska an der Frontlinie abgezogen. Die Vereinbarung von damals sieht den Truppenabzug an zwei weiteren Kleinorten, Solote und Petriwske, vor. Laut Selenskyj wäre das nun der zweite Schritt, auf den der Abzug auf der gesamten Frontlinie folgen soll. Außerdem hat der 41-Jährige den Wunsch nach einem weiteren Austausch, nun nach der Formel »Alle gegen alle«, geäußert. Zwar ist eine grundsätzliche Lösung des Donbass-Konflikts nicht in Sicht, doch könnten die Verwirklichung dieser Schritte endlich für einen stabilen Waffenstillstand in der Ostukraine sorgen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.