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»Ihr seid nicht allein«
Vor den Neuwahlen in Spanien sorgen in Katalonien Verhaftungen und anstehende Urteile für neue Spannungen
Die Abendsonne scheint grell auf die schmucklosen Straßen der Industriestadt Sabadell im Nordosten Spaniens. An einem Samstagabend haben sich hier mehrere Tausend Menschen versammelt, um gemeinsam zu demonstrieren. »Ihr seid nicht allein«, schallt es aus Tausenden Kehlen im Zentrum der zum Industriegürtel von Barcelona gehörenden Stadt. Die Solidaritätsbekundung gilt denjenigen, die an der Spitze der Demonstration laufen. Es sind vor allem Frauen und Kinder, die sich hier versammelt haben, die Angehörigen von sieben der neun am 23. September verhafteten Aktivisten. Zwei kamen schnell wieder auf freien Fuß. Der Vorwurf gegen die sieben seitdem in Madrid in Untersuchungshaft sitzenden Männer lautet auf »Terrorismus«. Gemeinschaftlich sollen sie nach Aussage des Sondergerichtshofes Audiencia Nacional Anschläge geplant haben, um die Unabhängigkeit Kataloniens voranzutreiben. Die Angeklagten sind Mitglieder von sogenannten CDRs, »Komitees zur Verteidigung der Republik«, die sich mit zivilen Mitteln für die Unabhängigkeit Kataloniens einsetzen.
»Absurd« nennt Anna S., die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, diese Vorwürfe bei einem Gespräch wenige Tage nach der Demonstration. Sie ist die Partnerin des verhafteten Xavier Duch, bei der Demonstration läuft sie mit den gemeinsamen sechs und acht Jahre alten Kindern in der ersten Reihe. »Das Wort ›Terrorismus‹ fühlt sich sehr fremd an«, sagt Anna S. Ihr Mann habe keine Anschläge geplant, die Unabhängigkeitsbewegung sei immer gewaltfrei gewesen: »Wir sind friedliche Menschen mit einem demokratischen, politischen Ziel«, so die 37-Jährige.
Alle neun Personen, die in der letzten Septemberwoche während des Polizeieinsatzes unter dem Titel »Operation Judas« festgenommenen wurden, gehörten lokalen »Comitès de Defensa de la República« (Komitees zur Verteidigung der Republik, CDRs) an. Doch wer sind diese Komitees eigentlich?
Die CDRs gründeten sich im September 2017 als »Komitees zur Verteidigung des Referendums«, um die Durchführung des von Spanien untersagten Referendums über die Unabhängigkeit Kataloniens zu gewährleisten. Mitglieder der Komitees übernahmen dabei wichtige Funktionen in der Organisation der Abstimmung. Diese konnte die katalanische Autonomieregierung aufgrund juristischer und polizeilicher Interventionen aus Madrid nicht selbst wahrnehmen. So schmuggelten Mitglieder der CDRs - nach vorheriger Beschlagnahmung von Wahlurnen - neue Urnen aus Frankreich in die Region und organisierten die Stimmabgabe in den Wahllokalen. Auch bei der Gewährleistung der Öffnung der Wahllokale waren die CDRs maßgeblich beteiligt. Durch friedliche Blockaden wurde dabei verhindert, dass Polizeieinheiten die Lokale räumen und die Wahlurnen beschlagnahmten. Im Rahmen dieser Einsätze kam es zu massiver Polizeigewalt.
Die CDRs gründeten sich in der Folge flächendeckend in ganz Katalonien, mittlerweile existieren knapp 400 lokale Gruppierungen. Die Komitees sind basisdemokratisch und nach Nachbarschaften organisiert, in wöchentlichen Versammlungen wird über das gemeinsame Handeln debattiert und entschieden. Die lokale Verankerung ermöglicht es, dass in den CDRs oftmals das gesamte Spektrum der Unabhängigkeitsbewegung von Liberalen über Konservative bis hin zur radikalen Linken vertreten ist. In Sabadell, der Stadt, aus der vier der neun Verhafteten stammen, sind die CDRs besonders stark verankert: Etwa 1000 Mitglieder verteilen sich hier auf sieben lokale Komitees.
Repression ausgesetzt sind die CDRs indes nicht zum ersten Mal. Als ein zentraler Akteur der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung standen sie bereits in der Vergangenheit im Zentrum der Aufmerksamkeit Madrids. So im April 2018, als im Rahmen der »Operation Cadera« zwei Mitglieder lokaler Komitees unter den Vorwürfen »Rebellion« und »Terrorismus« festgenommen wurden. jwe
In der Tat sind die bisher bekannt gewordenen Vorwürfe recht schwach. Was nicht zuletzt daran liegt, dass noch keine Anklageschrift veröffentlicht wurde. Dass dies bis zu zwei Jahre dauern kann und die Verdächtigen während dieser Zeit in Untersuchungshaft verbleiben können, gehört zu den besonderen Befugnissen des noch während der Franco-Diktatur gegründeten Sondergerichtshofes. Obwohl auch die Anwälte der Angeklagten keinen Zugang zu den Anklageschriften haben, wurden sie kurz nach den Festnahmen scheinbar gezielt an die Presse durchgestochen. In der Folge war in vielen Medien von Sprengstofffunden bei den Verdächtigen die Rede, Vergleiche zur 2018 aufgelösten baskischen Untergrundorganisation ETA machten die Runde und Details über Biografien und Berufe der Angeklagten wurden mitsamt Porträtfotos auf den Titelseiten gedruckt. Dass die ermittelnden Behörden nach kritischen Nachfragen von Journalist*innen eingestehen mussten, dass nicht etwa Sprengstoff bei den Verdächtigen zu Hause, sondern Materialien, die zur Herstellung von Feuerwerk dienen können, in einem Hobbykeller gefunden wurden, tat der Berichterstattung mit Terrorismusvorwürfen keinen Abbruch.
Als »Montaje«, also als gezielt konstruiert, wurden die Festnahmen denn auch einhellig von allen Unabhängigkeitsparteien im katalanischen Regionalparlament bewertet und der politische Charakter des Verfahrens betont. Der liberale Regionalpräsident Quim Torra ließ am folgenden Tag ein Transparent am Regierungspalast aufhängen, auf dem »Freiheit für die politischen Gefangenen« verlangt wurde. Es wurde erst nach Androhung einer polizeilichen Intervention wieder abgehängt. Der Forderung schließt sich auch Xavier Pellicer an. Der Jurist arbeitet in einem Nachbarschaftszentrum und ist ebenfalls auf der Demonstration. Es gebe sehr viele Ungereimtheiten bei den Festnahmen, er habe keinen Zweifel, dass es sich um fabrizierte Vorwürfe handele. »Sie versuchen durch juristische Vorwürfe, die nichts mit der Realität zu tun haben, eine Erzählung zu etablieren: ›Im Katalonien-Konflikt gibt es Gewalt und Terrorismus‹«, ist sich der 36-Jährige sicher.
Der große Rückhalt, den die Unabhängigkeitsbewegung auch nach den Festnahmen noch genießt, wird auch während der Demonstration deutlich: 12 000 Teilnehmer*innen zählt die Polizei in der Stadt mit 200 000 Einwohnern. Aus zahlreichen Fenstern entlang der Route applaudieren Nachbar*innen, Transparente und Fahnen werden aus den Fenstern gehängt. Einhellig ist diese Unterstützung jedoch bei Weitem nicht. Am Rande der Demonstration kommt es zu heftigen Wortgefechten, als spanische Nationalisten aus einem Café heraus ihren Unmut kund tun. »Scheiß Spanien!«, halten ihnen die Demonstrierenden entgegen, eine weitere Eskalation bleibt indes aus, Ordner*innen beruhigen die Situation.
Meinungserhebungen zufolge ist die Region Katalonien in der Frage der Unabhängigkeit tief gespalten, seit Jahren halten sich die beiden Lager dabei mit Zustimmungswerten von jeweils 45 bis 48 Prozent die Waage. Nach aktuellen Umfragen haben jedoch erstmals seit dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien vom 1. Oktober 2017, das Spanien für illegal erklärte, die Unionist*innen, die sich gegen eine Unabhängigkeit stellen, die Oberhand.
Der Abschwung in den Umfragen für die Unabhängigkeitsbefürworter dürfte mit Ermüdungserscheinungen zusammenhängen. Nach über zwei Jahren dauerhafter Mobilisierungen und der Blockade einer politischen Lösung des Konflikts macht sich bei einigen Resignation breit. Zur Demonstration am Jahrestag des Referendums kamen am 1. Oktober laut der lokalen Polizei Guàrdia Urbana in Barcelona nur noch 18 000 Menschen zusammen, im Vorjahr waren es noch 180 000 gewesen.
Erneuten Auftrieb dürften die Proteste jedoch durch die mit Spannung erwarteten Urteile gegen zwölf katalanische Politiker*innen und Bürgerrechtler erhalten. Neun von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, ein paar von ihnen bereits seit fast zwei Jahren. Die sieben liberalen und sozialdemokratischen Politiker*innen sowie die beiden sogenannten Jordis, die Vorsitzenden zivilgesellschaftlicher Organisationen, sind wegen »Rebellion« angeklagt. Für die Durchführung des Referendums, die Deklaration der Unabhängigkeit und entsprechende Mobilisierungen erwarten sie Haftstrafen von bis zu 30 Jahren. Für die in dieser Woche erwartete Urteilsverkündung sind in der gesamten Region in Nordostspanien Proteste, Blockaden und Streiks angekündigt, da niemand Freisprüche erwartet.
Xavier Pellicer sieht eine Verbindung zwischen den aktuellen Festnahmen, der bevorstehenden Urteilsverkündung sowie den für den 10. November angesetzten Neuwahlen in Spanien. Die PSOE, die spanische Sozialdemokratie, habe sich als unfähig erwiesen, eine neue Regierung zu bilden, sagt der Jurist. Wenige Wochen vor der Parlamentswahl versuche sie nun, ein Signal zu senden. Die Botschaft laute: »Wir greifen durch, wir stehen für die Einheit Spaniens ein!« Da der politische Konflikt um Katalonien nicht im Ansatz beigelegt sei, fürchte man die Mobilisierungen nach den Urteilen. »Die jetzige Repression dient also auch als Abschreckung im Vorfeld«, so Pellicer.
Auch Anna S. sieht die Festnahme ihres Partners in einem größeren Kontext. Die Festnahmen bewertet sie als einen politischen Schachzug. »Es ist wie beim Schach, sie waren dran und haben diesen Zug gemacht, zu einem Zeitpunkt, der ihnen sehr gelegen kam. Für sie ist es ein Spiel, in dem man Züge macht, aber mir haben sie mein Leben zerstört«, so Anna S.
Die spanische Regierung unter dem amtierenden sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez ließ derweil verlauten, sie werde nicht zögern, die Autonomierechte Kataloniens, »wenn es die Umstände erfordern«, zum wiederholten Mal außer Kraft zu setzen. Bereits vor zwei Jahren setzte die Zentralregierung unter Rückgriff auf den Artikel 155 der spanischen Verfassung die gewählte Regionalregierung ab und unterstellte Katalonien für mehrere Monate de facto einer Zwangsverwaltung durch Madrid.
Dass sich die Situation in Katalonien in absehbarer Zeit wohl nicht beruhigen dürfte, wird nicht zuletzt auf der Abschlusskundgebung der Demonstration deutlich. Tausende singen mit erhobener linker Faust die katalonische Hymne »Els Segadors«, die Stimmung wirkt entschlossen. Auch Anna S. zieht ein positives Resümee: »Das Rufen, die gemeinsamen Sprechchöre, das war eine gute Therapie. Heute habe ich, glaube ich, das erste Mal die Wut über diese Ungerechtigkeit, die uns widerfahren ist, richtig gespürt«, sagt die Partnerin des verhafteten Xavier Duch. Die nächste Zeit werde für sie persönlich schwer, aber politisch habe sie durchaus Hoffnung. »Sie wollen, dass die Wut in uns weiter wächst. Aber das ist ein Trugschluss. Wir werden ruhig, aber entschlossen weitermachen und gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen«, ist sich Anna S. sicher.
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