In stiller Trauer

Christoph Ruf über ritualisierte Politikerreflexe und die Unmöglichkeit, gleichzeitig zu sprechen und zu trauern

Ich schreibe hier, fünf Tage nach Halle, zum ersten Mal über die dortigen Ereignisse. Und immer noch schaffe ich es nicht wirklich, das Unfassbare zu sortieren. Umso erstaunter bin ich, wie schnell es anderen Menschen zu gelingen scheint, jedes noch so grausame Ereignis in merkwürdig kurzer Zeit in ihre gut eingeübten Argumentationsschemata einzubauen. Es gibt wohl nichts Schwierigeres, als einfach mal den Mund zu halten. »Die Unfähigkeit zu trauern«, über die das Ehepaar Mitscherlich in den Sechziger Jahren in Bezug auf die nicht verarbeitete NS-Zeit schrieb, sie gibt es auch auf individueller Ebene.

Und so hätte ich mir gewünscht, dass auch einige Fußballfans die Tatsache, dass eines der Opfer der Fanszene des Halleschen FC angehörte, nicht in irgendwelche seit Jahren bekannten Debatten über die politische Verfasstheit der dortigen Fanszene einrühren, sondern es bei Trauerbekundungen ohne Seitenhiebe belassen. Und ich hätte mir gewünscht, dass nicht die Frage aufgeworfen wird, wie schnell die Polizei an der Synagoge war (es waren sieben Minuten nach Eingang des Notrufs) oder welche Überwachungskamera an welcher Straßenkreuzung falsch installiert gewesen sein könnte. Wie sich überhaupt die Frage stellt, wie verhaltensauffällig Menschen sind, die krampfhaft versuchen so zu tun, als lasse sich jedes unvorhergesehene Ereignis verhindern, wenn nicht an irgendeiner Stelle Menschen versagt hätten. Ein Leben mit Vollkaskomentalität ist der way of life des 21. Jahrhunderts.

Bei manchen Politikerinnen und Politikern scheint es indes zu den Begleiterscheinungen ihrer Profession zu gehören, dass sie schon losrotzen, bevor ihnen jemand ein Taschentuch hinhält. Dementsprechend unappetitlich ist oft das Resultat. Jeder Mensch mit einem IQ von über 10 kann sich schließlich auch ohne entsprechende Hinweise zusammenreimen, dass eine Partei, die eine Ideologie der Ausgrenzung betreibt und vor allem Muslime offenbar nur als Angehörige einer Religionsgemeinschaft und nicht als Individuen begreift, Neonazis nähersteht als - sagen wir einmal - SPD oder Linke.

Ihr aber eine direkte Verantwortung für die Morde eines durchgeknallten Antisemiten zuzuschreiben, ist aber schon starker Tobak. Und ganz schön retro. Das Gruselige ist ja gerade, dass Soziopathen wie der Mörder von Halle gar keinen Bezug zu Menschen aus Fleisch und Blut haben müssen, um Tag für Tag ihren Wahn zu verfestigen. Die AfD mag an vielem schuld sein, das Internet als Wärmestube der Wahnhaften hat sie aber definitiv nicht erfunden. Zumal es schlicht und einfach pietätlos ist, wenn jeder mit einem IQ von über 5 den Politikertiraden anmerkt, dass da nicht die Trauer über die Morde, sondern die Sorge um die eigenen verfluchten Umfragewerte aus den Statements spricht. Der Vorwurf, ihre parteipolitische Brühe zu köcheln, gilt natürlich selbstredend in noch viel stärkerem Maße für die AfD selbst, die von Düsseldorf bis Hamburg darüber lamentiert, dass sie nicht zu Gedenkfeiern eingeladen wird. Als ob der Parteienproporz eine Rolle spielen dürfte, wenn es darum geht, die Gefühle von Menschen, die über die Opfer eines rassistisch motivierten Amoklaufes trauern, nicht noch weiter zu verletzen.

Es ist eine Kunst, im richtigen Moment die richtigen Worte zu finden. Eine noch größere Kunst ist es aber offenbar zu merken, wann man einfach mal nichts sagen darf.

In diesem Sinne wünsche ich mir für den kommenden Spieltag einen pietätvollen Umgang mit den beiden Morden, einen, der wenigstens mal für eine Woche die kleinlichen Dorfzwistigkeiten vergisst, die ansonsten mal humoristisch, mal bierernst und schnapsdoof die Gesänge aus den Kurven prägen. Erstaunlicherweise bin ich recht zuversichtlich, dass das auch gelingt. Fußballfans haben schon oft bewiesen, dass sie wissen, wann es Wichtigeres gibt, als ihre Rituale. Bei gemeinsamen Demonstrationen, bei Trauerminuten, bei fanpolitischen Aktionen.

Am Freitagabend erschien die komplette Fußballmannschaft des Halleschen FC beim ausverkauften Eishockeyspiel der Saale Bulls - zusammen mit den Mannschaften der Lions-Basketballer und der Wildcats-Handballerinnen. »Zusammen gegen Gewalt, Rassismus und Antisemitismus« stand auf dem 20 Meter langen Transparent, hinter dem sich alle Sportlerinnen und Sportler versammelten. Ein wichtiges Statement. Genau, wie das, mit dem der Hallesche FC auf seiner Homepage über die Aktion berichtete: »Gemeinsame Stille«.

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