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Der Sonderbeauftragte
Horst Teltschik, einst Kohls Vertrauter, warb im literarischen Salon des »nd« für gute Beziehungen zu Russland
Langeweile und Lebensüberdruss quälen den adligen Offizier und Lebemann Petschorin. Wie überwindet man Lebensunlust? Indem man russisches Roulette spielt. Nicht nur der Schriftsteller Michail Lermontow hat diesen selbstmörderischen Zeitvertreib einer untätigen, nutzlosen Kaste in einem Roman mit dem sarkastischen Titel »Ein Held unserer Zeit« verewigt, auch der britische Romancier Graham Greene, der sogar einen Selbstversuch gewagt haben soll. Eine merkwürdige Faszination geht von dem in aristokratischen Kreisen im Zarenreich ersonnenen Spiel aus; es geistert durch etliche Bücher und Filme. In einem kurz vor der Millenniumswende erschienenen Sachbuch, »Russisch Roulette«, ging es um die Millionen, die das Deutsche Reich den Bolschewiki in der Hoffnung zukommen ließ, Russland zu destabilisieren, auf dass es aus dem gegnerischen Kriegsbündnis ausscheide. Das Kalkül der kaiserlichen Generäle ging auf. Doch zu welchem Preis? Der siegreiche »Rote Oktober« 1917 strahlte auf Deutschland aus, im November 1918 wurden die Hohenzollern, Wittelsbacher, Wettiner gestürzt. Die Lehre aus der Geschicht: Spiele va banque nicht.
»Russisches Roulette« überschrieb Horst Teltschik sein Plädoyer für eine vernunftgeleitete, verantwortungsvolle Politik, vor allem gegenüber Russland. Irmtraud Gutschke, langjährige nd-Redakteurin, lud den Politologen und Politiker a. D. in ihren literarischen Salon ein. Und viele interessierte »nd«-Leser kamen.
Gewiss, es wäre interessant gewesen, von Helmut Kohls einstigem Vize-Kanzleramtschef Details über den Deal zu erfahren, der das Plazet der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten einbrachte. Und wie viele Millionen damals nach Moskau geflossen sind, damit der letzte KPdSU-Generalsekretär sowie der erste und letzte Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, die DDR auf- respektive preisgebe und aus dem - bereits zerfallenen - Bündnis der Warschauer Vertragsstaaten entlasse. Dies war allerdings nicht das Thema des Abends. Trotzdem äußerte sich Teltschik nicht nur zu aktuellen besorgniserregenden Ereignissen.
»Für die DDR war ich nie zuständig«, sagt mehr als bescheiden Kohls Sonderbeauftragter bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit. Er erläutert: »Die DDR war für uns nie Ausland.« 19 lange Jahre stand Teltschik dem Oggersheimer mit Rat und Tat zur Seite. »Und Sie sehen: Ich hab’s überlebt«, scherzt der Christdemokrat im nd-Redaktionsgebäude am Berliner Franz-Mehring-Platz und erntet verstehendes Lachen. Er begann für Kohl zu arbeiten, als dieser beschloss, nicht Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz zu bleiben, sondern nach Höherem zu streben. Der Aufstieg von der Staatskanzlei in Mainz ins Bonner Bundeskanzleramt ergab sich mit dem bis dato einzigen erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik, dem der Sozialdemokrat Helmut Schmidt 1982 dank der abtrünnigen FDP unterlag. Die hernach vor Teltschik stehenden Herausforderungen und Aufgaben sind dem 1940 in Mähren, im deutsch-okkupierten Tschechien, geborenen Sohn kleiner Leute nicht an der Wiege gesungen worden. Das Flüchtlingskind erlebte in Nachkriegsdeutschland Armut und Ausgrenzung. Der Gymnasiast vom Tegernsee galt bayerischen Ureinwohnern noch als Fremdling, erst als Teltschik in die Politik einstieg und Kohls Vertrauter wurde, hieß es anerkennend: »Das ist unser Buab!«
Teltschik berichtet über seine sozialen und politischen Prägungen. Dazu gehörte nach erfolgreicher Verteidigung seiner Diplomarbeit über den chinesisch-sowjetischen Konflikt am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin ein zweijähriges Intermezzo als Assistent beim sozialdemokratischen Lehrstuhlinhaber Richard Löwenthal. Weltanschaulich konträre Positionen waren für den jungen Akademiker nicht primär wichtig, auch dem späteren Staatsbeamten nicht. Als er Leiter der außenpolitischen Abteilung im Kanzleramt wurde, habe er die komplette Mannschaft des gestürzten sozialdemokratischen Kanzlers übernommen, weil - so Teltschik - für ihn nur Sachkompetenz und Loyalität zählt. Tatsächlich führte Kohl die von Willy Brandt und Egon Bahr eingeleitete Entspannungspolitik fort, bestärkt von seinem Ministerialdirektor, der wiederum durch familiäre Erfahrungen geleitet wurde. »Mein Vater war 14 Jahre Soldat«, sagt Teltschik und führt fort: »Als 18-Jähriger hat er in den Ersten Weltkrieg ziehen müssen, als Mann mittleren Alters in den Zweiten - beide Male an der Ostfront.« Nach einem Bauchschuss hätten Sanitätssoldaten der Roten Armee den Vater gesund gepflegt; der Sohn empfindet Dankbarkeit noch heute.
Von Kindesbeinen an, offenbart Teltschik, habe ihn das Motto »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus« geleitet. »Ich sage es offen, aber auch: ›Nie wieder Kommunismus!‹« Worauf die Gastgeberin einwendet, dass die Gesellschaftsordnung dereinst in der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern mit Kommunismus wenig gemein hatte, dieser ein Traum, eine Utopie blieb. Teltschik weiß natürlich um die Befindlichkeit seiner ostdeutschen Zuhörer, muss sich aber auch selbst treu bleiben. Als Schüler habe er Brieffreundschaften mit Gleichaltrigen in der DDR unterhalten, ebenfalls mit kirchlichem Hintergrund. »Ich wusste, wie sie dort leben, und von der tiefen Depression drüben, als die Mauer gebaut wurde.« Bei Ausbruch der Kuba-Krise versah er seinen Grundwehrdienst in einem Panzerbataillon bei Kassel: »Ausgangssperre und Alarmbereitschaft über Weihnachten und Neujahr.«
Angesichts der vielen selbst erlebten brenzligen, kriegsschwangeren Momente in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lehnt Teltschik die Kennzeichnung »Kalter Krieg« für die heutige Eiszeit zwischen Russland und dem Westen ab. Er spricht lieber von einem »kalten Frieden«. Große Sorge bereite ihm das neue Wettrüsten, nicht nur in den USA und Russland. Der langjährige Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz fürchtet einen zufälligen Zwischenfall wie eine Kollision von russischen und US-Militärflugzeugen oder Kriegsschiffen. Eine berechtigte Präsumtion ob der NATO-Manöver an Russlands Grenzen sowie beidseitiger Involvierung in Syrien.
»Was Bush senior und Gorbatschow beerdigt haben, lebt wieder auf«, bedauert Teltschik. Die Chinesen begännen mit der Militarisierung des Weltalls. Putin freue sich über seine neuen Flugzeuge mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit, kaum vom Radar erfassbar, und über kleinere, effektivere Sprengköpfe, die eine Abwehr erschweren. »Und Trump kriegt sich über sein neues Tarnkappenflugzeug, zwei Milliarden Dollar das Stück, nicht mehr ein.« Der erfahrene Unterhändler, der explizit betont, »Diplomat war ich nie«, vermisst in der heutigen Politik strategisches Denken: »Jeder fummelt vor sich hin.« Gegenwärtige Staatenlenker lassen ihn an kleine Kinder im Sandkasten denken, die sich um Schaufelchen und Eimerchen streiten. »Wirft der eine mit Sand, macht der andere es ihm gleich. Führt die eine Seite ein Manöver durch, muss die andere mit einem noch größeren antworten.« Rhetorisch fragt er sein Publikum: »Haben wir eine Friedensbewegung? Nein. Aber eine Klimabewegung.« Teltschik moniert mokant: »Eine Atombombe - und wir brauchen uns ums Klima keine Sorgen zu machen.«
Auf die Frage von Irmtraud Gutschke, ob überhaupt und wie Rüstungsgeschäfte politisch einzudämmen seien, erinnert sich Teltschik daran, dass Kanzler Kohl eine vom Vorgänger den Saudis versprochene Lieferung von »Leopard«-Panzern nicht genehmigt habe, und verweist auf Exportrichtlinien. Zur Sprache kommt auch die sattsam bekannte Ausrede von Rüstungskonzernen, wenn Waffenhandel gedrosselt werden soll: Arbeitsplätze würden vernichtet. Der nach seiner politischen Karriere als Vorstandsmitglied der BMW Group tätige Teltschik gibt zu bedenken: »Man kann der Frömmste in der Welt sein, wenn man der einzige ist, ist es schwierig.«
Einmal mehr bedauert er, dass die Chance von 1989/90 zur Fundierung einer stabilen internationalen Friedensordnung in gleichberechtigter Kooperation mit Russland verspielt worden ist. Seine Bemühungen um eine schnelle deutsche Vereinigung - »Zum Glück hatten wir die Einheit im August 1990 in Sack und Tüten, denn die Amerikaner konnten sich dann nicht mehr um uns kümmern« (Zweiter Golfkrieg) - habe im Kontext der Einigung Europas und einer europäischen Sicherheitsarchitektur gestanden, die Russland einschließen sollte. Diese Hoffnung ist nicht aufgegangen. Teltschik hätte sich sogar vorstellen können, dass die Russländischen Föderation Mitglied der NATO werden, zwar nicht des militärischen Bündnisses, wohl aber von dessen politischem Gremium. Da ist der Christdemokrat wohl d'accord mit dem Sozialdemokraten Egon Bahr, der sich eine strategische Partnerschaft mit Russland gewünscht hatte. Teltschiks eindringlicher Appell: »Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik, wenn wir nicht vom kalten Frieden in einen heißen Konflikt schlittern wollen.«
Horst Teltschik: Russisches Roulette - Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. C. H. Beck, 234 S., br., 16,95 €.
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