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Streit um das Erbe der Ölzeit
Shell steht in der Kritik, da der Konzern alte Bohrinseln in der Nordsee verrotten lassen will
Es war eine der spektakulärsten Aktionen in der Geschichte von Greenpeace: Ende April 1995 besetzten 18 Mitglieder der Umweltorganisation die stillgelegte Ölplattform »Brent Spar«, die der Shell-Konzern in der Nordsee versenken wollte. Nach einigen Wochen kam es zu einer ruppigen Räumung, doch der 147 Meter hohe Stahlkoloss wurde immer wieder kurzzeitig besetzt. Anlass der Aktion war Shells Ankündigung, die 14 500 Tonnen schwere Plattform im Meer zu versenken. Die Auseinandersetzung David gegen Goliath sorgte für große mediale Aufregung und Proteste; selbst viele Normalbürger tankten plötzlich nicht mehr bei Shell. Letztlich gab der Konzern nach und kündigte an, »Brent Spar« an Land zu entsorgen. Auch die Politik schaltete sich ein: Die 15 Anrainerstaaten schrieben im OSPAR-Vertrag zum Schutz der Nordsee den Rückbau solcher Anlagen vor.
Ein Vierteljahrhundert später ist Greenpeace zurück auf zwei Shell-Plattformen über dem Ölfeld »Brent«, gelegen zwischen der Südwestküste Norwegens und den schottischen Shetland-Inseln. Der britisch-niederländische Konzern hatte Anfang der Woche angekündigt, die Tragekonstruktionen von vier ausrangierten Ölplattformen mit giftigem Inhalt in der Nordsee verrotten lassen zu wollen. Die zuständige britische Regierung will dafür die benötigte Ausnahmegenehmigung erteilen.
Greenpeace hingegen möchte das unbedingt verhindern: »Shell - Das Meer ist nicht eure Müllkippe!«, heißt es auf Transparenten der Organisation. Für »absolut verantwortungslos« hält Greenpeace-Meeresbiologe Christian Bussau das Vorgehen des Konzerns: »Das Öl in den Betonsockeln der Plattformen wird irgendwann ins Meer gelangen. Shell hinterlässt eine tickende Zeitbombe.« Greenpeace warnt zudem vor einem Präzedenzfall für andere Ölkonzerne.
Denn in der Nordsee wartet ein schweres Erbe für die Nach-Öl-Zeit. Fast 500 Plattformen stehen zwischen Dänemark, Großbritannien, Norwegen und den Niederlanden, wo seit den 1970er Jahren gefördert wird, die Vorräte aber nach und nach zu Ende gehen. Immer mehr Bohrinseln rosten bereits vor sich hin. Der Rückbau einer Ölplattform kostet gewöhnlich mehrere Hundert Millionen Dollar. Auch die Staaten haben kein allzu großes Interesse daran, denn die Konzerne könnten sich einen Großteil der Kosten vom Fiskus zurückholen. In Großbritannien etwa können sie etwa die Hälfte ihrer Ausgaben mit ihrer Steuerlast verrechnen.
Shell hingegen argumentiert nicht mit Kosten: Der Verbleib der Plattformen im Meer sei die umweltverträglichste Lösung, heißt es dort stattdessen. Dies war einst auch bei »Brent Spar« das Argument, das letztlich nicht zog.
Am Freitag treffen sich die OSPAR-Staaten in London zu einer eigens einberufenen Konferenz über diese Frage. Neben der EU-Kommission haben zahlreiche Regierungen bereits Beschwerde gegen die Entscheidung Londons eingereicht, darunter die schwedische, die niederländische und auch die deutsche: Shell müsse seine ausgedienten Ölplattformen vollständig abbauen und die darauf gelagerte große Menge Altöl entsorgen, sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums am Mittwoch. Deutschland habe bereits im April der Ausnahmegenehmigung Großbritanniens widersprochen.
Greenpeace weist darauf hin, dass bei drei der Plattformen neben der bis über die Wasseroberfläche reichenden Trägerkonstruktion auch Öltanks und Bohrkammern im Meer verbleiben sollen. Diese seien gefüllt mit 640 000 Kubikmeter ölhaltigem Wasser sowie 40 000 Kubikmeter ölhaltigem Sediment mit einem Anteil von mehr als 11 000 Tonnen Rohöl.
Mit Zahlen hat Greenpeace indes keine allzu guten Erfahrungen gemacht. Der große Erfolg gegen den Goliath Shell wurde letztlich zum Pyrrhussieg, als herauskam, dass die Umweltschützer fälschlicherweise behauptet hatten, dass die Menge giftiger Ölrückstände in den Tanks von »Brent Spar« nicht, wie von Shell angegeben, 100 Tonnen, sondern 5500 Tonnen betrage. Trotz einer Entschuldigung schleppte Greenpeace viele Jahre ein Glaubwürdigkeitsproblem mit sich herum. Immerhin hat man, anders als Shell, aber offenbar aus den Geschehnissen gelernt: Die aktuell verwendeten Zahlen zu dem giftigen Inhalt der Bohrinseln stammen von Shell selbst.
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