Streik für und mit der Community

Lehrergewerkschaft CTU kämpft auch für Ausbau des Sozialstaats und bessere Bedingungen für Schüler*innen

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Rund 25.000 Lehrer*innen streiken seit Donnerstagmorgen in Chicago. Die drittgrößte Schulbehörde der USA hat deswegen den Unterricht für Tausende Schüler ausfallen lassen. Bei dem Streik geht es nur zum Teil um die Forderung nach einer besseren Bezahlung für Lehrer*innen. Zum anderen geht es auch um die Forderung, den Sozialstaat in einer Großstadt auszubauen, die mit Armut und hoher Kriminalität kämpft.

Eine zentraler Wunsch der Lehrergewerkschaft Chicago Teachers Union (CTU) ist zudem die Einstellung einer Vollzeit-Krankenschwester, einer*s Bibliothekar*in und eine*r Sozialarbeiter*in an jeder Schule. Auch eine bessere Finanzierung des öffentlichen Schulsystems und ein Ende des «Outsorcing» von Bildungsausgaben an private Schulbetreiber, etwa in Form der in den USA in den letzten Jahren gewachsenen Zahl von «Charter Schools», steht auf dem Forderungskatalog.

Obergrenzen für Klassengröße

Außerdem will die CTU Obergrenzen bei der Klassengröße und städtische Hilfe für neue Lehrer*innen bei der Wohnungssuche sowie für die Familien von Schüler*innen, die bedroht sind ihre Wohnung zu verlieren. Laut Schätzungen sind 17.000 Schüler in der Stadt von Obdachlosigkeit betroffen.

Die CTU verbindet so erneut tarifliche Forderungen nach besserer Bezahlung mit politischen Anliegen und einer explizite Einbeziehung der Community. Schon 2012 hatte die Gewerkschaft, die Aktivist*innen zuvor in eine basisdemokratische, innovative und militante Organisation umgeformt hatten, zum ersten Mal seit 1987 gestreikt. Nach einer Woche Unterrichtsausfall für über 350.000 Schüler*innen hatte die Gewerkschaft gegen die von Establishment-Demokraten beherrschte Stadtverwaltung rund um Bürgermeister und Obama-Stabschef Rahm Emanuel 17 Prozent mehr Gehalt, verteilt über vier Jahre, erreicht.

Die CTU erstreikte auch die teilweise Abwehr eines neoliberalen Reformprogramms, das die Bezahlung von Lehrer*innen an die Testergebnisse ihrer Schüler*innen koppeln sollte.
Laut dem Professor für Arbeit und Bildung an der Universität von Illinois Robert Bruno sorgte der «historische» Streik« 2012 für das Ende der jahrelangen neoliberalen »Reformen« des öffentlichen Schulsystems nach marktwirtschaftlichen Prinzipien.

CTU hatte schon früher Vorreiterrolle

Heute liegt das Startgehalt für Lehrer*innen in Chicago im landesweiten Durchschnitt relativ hoch bei 53.000 Dollar im Jahr, doch Hilfslehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen verdienen mit nur rund 30.000 Dollar jährlich deutlich weniger. Nach jahrelangen rechten Kampagnen zur Schwächung der Macht der Lehrergewerkschaften liegen derzeit in vielen US-Bundesstaaten die Einstiegslehrergehälter bei unter 40.000 Dollar pro Jahr, vor Steuerabzug.

Deswegen hatte es im letzten Jahr in mehreren US-Bundesstaaten wie West Virginia, Kentucky oder Colorado teils wilde Streiks von Lehrer*innen gegeben. Die Arbeitskämpfe der Lehrer*innen, die tagtäglich mit den sozialen Problemen des Landes konfrontiert sind und oft aus eigener Tasche Unterrichtsmaterialien bezahlen, sorgten dafür, dass in den Vereinigten Staaten laut Zählung des US-Arbeitsministeriums so viele Beschäftigte streikten, wie seit der Amtszeit Ronald Reagans Ende der 1980er Jahre nicht mehr.

In Chicago streikt die CTU, die sich als eine Gewerkschaft der Sozialen Bewegungen versteht, nun für die Ausweitung sozialstaatlicher Hilfestellung für die oft traumatisierten Schüler*innen der Stadt, viele von ihnen aus Stadtvierteln mit hoher Kriminalität und Armut. Zusammen mit anderen Gewerkschaften und Community-Aktivist*innen hat die Gewerkschaft vor dem Streik Veranstaltungen über Probleme an den Schulen abgehalten, um die Eltern der Stadt auf ihre Seite zu bringen.

Kein Essensausfall für Schüler*innen

Die Ortsgruppe der »Democratic Socialists of America«, die im Stadtrat der Stadt seit April zehn Prozent der Parlamentarier stellt, und die Gruppe »Chicago Jobs with Justice« werden während des Streiks Frühstück und Mittagessen für die Schüler*innen anbieten. Fast 400.000 Schüler*innen in der Stadt sind auf die staatlichen Essensprogramme angewiesen. Auch die Stadt kündigte an, trotz Unterrichtsausfall Essen an den Schulen bereitzustellen.

Die Bewegungsstrategie der CTU ist erfolgreich: Einer Umfrage der Chicago Sun Times zufolge unterstützen 49 Prozent der Wähler*innen den Streik. Laut der Zeitung sind nur 38 Prozent dagegen. Unter Eltern in der Stadt gibt es noch größere Unterstützung und weniger Ablehnung.

Die erst im April dieses Jahres neu gewählte progressive Bürgermeisterin Lori Lightfoot der Stadt bietet der Gewerkschaft bisher für die fünfjährige Laufzeit des Tarifvertrags eine Gehaltserhöhung von 16 Prozent an. Die geringer bezahlten »unterstützenden Beschäftigten« sollen laut Angebot der Schulbehörde sogar über fünf Jahre 38 Prozent mehr Gehalt erhalten. Das hält die Bürgermeisterin für »haushalterisch verantwortlich«.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.