Mit Herz für die leidenden Massen
Blut und Wasser schwitzen: «The Bassarids» von Hans Werner Henze an der Komischen Oper in Berlin
Hans Werner Henze war ein untersetzter blonder Mann, von jungenhaftem bäuerlichem Aussehen, der es manchmal bis zu zehn Minuten fertig brachte, sich wie ein wohlerzogener kluger Bauernjunge zu benehmen, dann aber plötzlich einen musikalischen Einfall vor sich hinträllerte oder Hotte sagte oder bummsen oder Cocolo. Der Trakt, in dem er wohnte, sah genau so aus wie man sich den Gästetrakt eines Schwulen vorstellt, der sein Geld damit verdient, ausländische Filme zu synchronisieren und den Titel ›Plein Soleil‹ in ›Nur die Sonne war Zeuge‹ zu verbessern. Die Einrichtung bestand, wie die Titel, aus überflüssigen Begriffen.« Das schreibt Hubert Fichte in seinem Buch »Die zweite Schuld«.
Saisoneröffnung im Travestietheater an der Behrenstraße zu Berlin: Die Komische Oper spielt zum Auftakt 2019/2020 »The Bassarids« von Hans Werner Henze. Ein paar Blocks weiter, im Preußenparadies namens Staatsoper Unter den Linden, begann man ungefähr diametral entgegengesetzt, also superanachronistisch, mit dem Boulevardstück »Die Lustigen Weiber von Windsor« von Otto Nicolai. Damit ist vieles gesagt, über Ausrichtung und Mut der beiden Häuser. Man muss Barrie Kosky als Regisseur nicht mögen, als Intendant hingegen ist ihm viel Verdienst und Vernunft zuzuschreiben.
Denn Henzes Werk ist bis heute skandalös unterrepräsentiert an den großen Häusern der Bundesrepublik. Zwar spielte man die »Bassariden« beispielsweise 2018 bei den Salzburger Festspielen, trotzdem scheint man im deutschen Sprachraum immer noch ein Problem zu haben, mit dem schwulen, kommunistischen Genie aus Gütersloh, dem sein eigener Vater einst sagte, er gehöre am besten ins KZ. Als der Komponist sein Oratorium »Das Floß der Medusa« 1968 mit einer Widmung an Che Guevara, roter Fahne sowie Flugblättern des SDS ausstattete, gab es Tumulte, Abbruch, Boykott.
Bei der Primiere von »The Bassarids« gab es, gerechterweise, Beifall, Affirmation, Ovationen. Gut zweieinhalb anstrengende, aber lohnende Stunden ohne Pause dauert das Musikdrama in einem Akt von 1966 in der revidierten und reduzierten Fassung von 1992. Henze hatte es im Nachhinein als sein vielleicht bestes Werk bezeichnet; ein unfassbar großartiges Stück Oper ist es tatsächlich. Narrativ bewegt man sich in der griechischen Antike: Vertont wurde das Drama »Die Bakchen« von Euripides, das im Intermezzo durch die Sage »Das Urteil der Kallione« ergänzt wird. Der Komponist und seine ineinander verliebten Librettisten W.H. Auden und Chester Kallman montierten daraus eine Analogie über Macht, Glaube und die perverse Kraft der Religion.
Barrie Kosky verlässt sich in seiner Inszenierung zum Glück ganz auf Sänger, Raum und Bühnenbild. Man hat den Saal beleuchtet, quer vor den Orchestergraben einen Laufsteg gezogen, in den Seitenlogen Bläser positioniert und überhaupt die ganze herkömmliche Bühne in helles Holz verkleidet, ein riesiges Treppenhaus daraus gemacht, inklusive des schmalen Exits ins Jenseits. Architektonische Möglichkeiten werden genutzt, Auf- und Abgänge erfolgen in alle Richtungen, der große Chor darf umherlaufen, manchmal Formationstanz abhalten, das große Orchester Surround-Sound verbreiten. Übriges erledigt das hervorragende Sängerensemble, allen voran Günter Papendell als Pentheus - stimmlich und mimisch äußerst präsent. Heimliches Highlight ist die Darbietung Jens Larsens als dessen Großvater Cadmus. Er schwitzt Blut und Wasser, buckelt übers Holzparkett, rollt die Stufen runter, und brüllt wie ein Ochse. Reichlich zart hingegen, erst einmal zu zart vielleicht, die Intonation der Agave durch Tanja Ariane Baumgartner. Das Dirigat von Vladimir Jurowski gestaltet sich zweifellos spitzenmäßig, sehr laut, niemals plump, gute Tempi.
Verschont von Koskys notorischer Vorliebe für hohlen Körperklamauk und Tuntenfasching wird man allerdings auch hier nicht. Aber: Eingebettet ins Zwischenspiel lässt sich eine kurze Varietéeinlage in Fummeln tatsächlich nachvollziehen und verkraften, weil der Rest so breitspurig und monumental angelegt ist, dass man bei fehlender Akt-Pause gerne eine Hirnpause einlegt. Um nämlich zu erklären, worum es in »The Bassarids« geht, ist eine Einführung in die griechische Mythologie von Nöten. Der herkömmliche Halbintellektuelle mit Brotberuf kann den blutigen Verwerfungen um Dionysos und den eitlen König zwar oberflächlich folgen, aber um die zahlreichen Anspielungen und vor allem die eklektische Sprache zu verstehen, braucht man gewisse Kenntnisse von Stammbäumen und Vokabeln. Der Kauf des Programmhefts, ausnahmsweise sogar die Teilnahme an einer Einführungsveranstaltung, ist hierbei zu empfehlen.
Auch wegen der Vorliebe für abgehobene Symbolik, für großspurige Instrumentierung, zarte Flächen und starke Gefühle, belächelte man den programmatischen Arbeiterfreund Henze. Ein abgehobener, kitschiger Schwuler mit Herz für die leidenden Massen? Ein empathischer, egozentrischer Vollintellektueller? Dass das den Altnazis, die in den 60ern immer noch mit breiten Ärschen in den Institutionen hockten, sauer aufstieß, war nicht verwunderlich. Zumindest scheint es für einen Moment so, als hätten sich die Zeiten geändert. 2019 steht man auf und klatscht dem schwulen Regisseur, dem schwulen Komponisten, den schwulen Librettisten, der schwulen Oper euphorisch zu, schleppt sich missmutig auf die neue Unisextoilette und sieht viele Leute hoffen, dass es noch ein bisschen so bleiben wird.
Nächste Vorstellungen: 2., 5., 10. November 2019 und 26. Juni 2020.
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