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Wenn Karlsruhe den Feuerlöscher spielt
Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Voll- und 60-Prozent-Sanktionen bei Hartz IV für verfassungswidrig
Kann man das Existenzminimum kürzen? In Deutschland heißt dieses Existenzminimum Hartz IV. Und seit der Agenda 2010 der Rot-Grünen Bundesregierung lautete die Antwort darauf bis jetzt: Ja.
Bis jetzt. Denn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am Dienstag in einem Urteil das bisherige Sanktionsregime in wesentlichen Teilen als verfassungswidrig bezeichnet. Die Totalsanktion, bei der nicht einmal mehr Mietkosten und Krankenversicherung gezahlt wurden – nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch Kürzungen um zwei Drittel des Regelsatzes: verfassungswidrig. Bis 30 Prozent darf nur noch gekürzt werden. Damit enthält der Richter*innenspruch mehre wesentliche Klatschen für eine der zentralen Hinterlassenschaften der Ära Gerhard Schröder.
Zunächst stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass das Existenzminimum ein Existenzminimum ist und dass dessen Gewährleistung die Richtschnur für die Politik im Umgang damit sein muss: Aus der »grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz« leiteten sich die »zentralen verfassungsrechtlichen Anforderungen« an den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Grundsicherungsleistungen für Erwerbsfähige ab. Diese Bewertung stellten die Karlsruher Richter*innen ihrem Urteil gleich zu Beginn voran. Gesichert werden müsse »die physische und soziokulturelle Existenz als einheitliche Gewährleistung«. Und da dieses zuvor schon mit der Hartz-IV-Regelsatzhöhe als eigentliches Minimum bezeichnet wurde, seien Eingriffe nur in engen Grenzen erlaubt.
»Aufgrund der derzeitigen Erkenntnisse ist eine Minderung in Höhe von 60 Prozent des Regelbedarfs [..] nicht zumutbar und deshalb verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.« Eine Sanktion in dieser Höhe reiche »weit in das grundrechtlich gewährte Existenzminimum hinein«. Zu den Vollsanktionen fand das Gericht sogar noch deutlichere Worte. Es spricht von »erheblichen Bedenken«, weil die Sanktion eine »gravierende Belastung im grundgesetzlich geschützten Bereich der menschenwürdigen Existenz« bedeute. Und es wird auch inhaltlich: Es sei »in keiner Weise belegt«, dass ein »Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele«, also die Einforderung der Mitwirkungspflicht zu erreichen.
Diese Mitwirkungspflicht erklärten die Richter*innen im Rahmen des gesetzlichen Gestaltungsspielraums allerdings für zulässig. Der Gesetzgeber könne sich dafür entscheiden, eine aktive Mitarbeit der Personen in der sozialen Sicherung einzufordern, um deren »Hilfsbedürftigkeit« zu überwinden, so Karlsruhe, sprich: um raus aus der Grundsicherung zu kommen. Diese Mitwirkungspflichten dürften auch »durchsetzbar« ausgestaltet werden. Dafür seien im engen Rahmen auch gewisse Sanktionen erlaubt, solange diese »verhältnismäßig« seien. Die 30-Prozent-Sanktion mahnt Karlsruhe in dem Rahmen als eine »außerordentliche« Belastung an. Sie sei jedoch dazu geeignet, die Mitwirkung zu erreichen.
Allerdings: Auch hier erlässt Karlsruhe deutliche Einschränkungen. Waren es bisher immer volle drei Monate Sanktion, muss diese künftig beendet werden, wenn der Erwerbslose doch mitmacht. Zudem muss es einen Ermessensspielraum geben, Sanktionen dürfen nicht in Härtefällen verhängt werden, und es muss zwingend eine Prüfung geben, bevor die Sanktion verhängt wird.
Wolfgang Nešković, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, ist generell zufrieden mit dem Urteil, hätte sich jedoch eine konsequentere Bestätigung des Existenzminimums erhofft. »Das Bundesverfassungsgericht hat das sprachliche Kunststück fertiggebracht, das Minimum eines Minimums zu kreieren«, sagte er »nd«. Das Verfassungsgericht habe zuvor schon geurteilt, dass Hartz IV das absolute gesetzliche Minimum sei. »Nun sind Voraussetzungen definiert worden, wie das noch einmal um 30 Prozent unterschritten werden kann. Das finde ich vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtssprechung nicht plausibel.«
Das Team um den Erwerbslosenaktivsten Ralph Boes bewertet das nun gefällte Urteil dennoch als Einschnitt für die verbleibenden Sanktionen: »Es wir künftig nicht mehr so leicht möglich sein, zu sanktionieren. Betroffene müssen nun erst angehört werden, es gibt Ermessensspielraum«, so Diana Aman. »Mehr hätten wir von dem Bundesverfassungsgericht auch gar nicht erwartet.«
Der Sozialrechtsexperte und Anti-Hartz-IV-Aktivist Harald Thomé sagte »neues deutschland«: »Vorher hieß es: Das Existenzminimum ist streichbar. Kulturelle und soziale Teilhabe können ein paar Monate warten. Das geht nun nicht mehr. Das ist eine sehr erfreuliche Klarstellung.« Das ganze werde nun Folgen haben für die politische und juristische Landschaft.
Die Parteivorsitzende der LINKEN, Katja Kipping, zeigte sich gegenüber »nd« positiv gestimmt über die Klarstellung des Verfassungsgerichts. Es sei nicht die 100-prozentige Sanktionsfreiheit, für die sich die LINKE einsetze. Aber es sei Rückenwind »für alle, die für soziale Grundrechte kämpfen.« Sie sagte: »Das Ganze ist auch ein Urteil über die Agenda 2010. Wesentliche Disziplinarstrafen aus dem Regime wurden für ungültig erklärt und die seither in Teilen noch immer vorherrschende Meinung ›Nur wer arbeitet, soll auch essen‹, als nicht verfassungsmäßig abgeurteilt.«
In eine ähnliche Richtung geht auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt. »Wiedermal musste das BVerfG ein Problem lösen, das eigentlich die Bundesregierung hätte lösen müssen. Gut, dass den #HartzIV-Sanktionen klare Grenzen gesetzt & Menschen vor harten Kürzungen in der Existenzsicherung bewahrt werden. Demütigungen bringen niemanden zurück in Arbeit«, twittert sie.
Union und FDP hatten bis zum Schluss an allen Sanktionen als notwendig festgehalten. Die SPD, die damals Hartz IV und die weitreichenden Sanktionen eingeführt hat, hatte vor dem Urteil gerade ihre Position in Hinblick auf die Sanktionen der Kosten der Unterkunft verändert. Auch die bisher mögliche Streichung des Regelsatzes um 100 Prozent hielt die Partei bereits vor dem Karlsruher Richterspruch für falsch. Nun muss ausgerechnet SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil gezwungenermaßen deutlich weitreichendere Schritte in Gesetzesform gießen.
»Wir müssen jetzt dem für die Umsetzung des Urteils zuständigen Minister Hubertus Heil auf die Finger schauen«, kündigte Kipping »nd« an. »Wir planen auch weiter, parlamentarisch im Bundestag Druck zu machen.«
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