Die Kraft der Verzögerung

Warten ist kein unwichtiger Zustand, es ist ein Spiegel gesellschaftlicher Zustände.

  • Timo Reuter
  • Lesedauer: 6 Min.

Ob an der Bushaltestelle oder auf dem Amt, ob im Vorzimmer der Chefin oder an der Ampel - ständig müssen wir warten. Manchmal ist daran ja bloß der Verkehr oder ein Zufall schuld, aber nicht selten steckt dahinter auch eine Machtdemonstration. Menschen müssen ausharren, weil andere es so wollen und ihnen die Zeit rauben. Und so ist das Warten nicht bloß ein vielleicht ärgerlicher, aber in jedem Fall unwichtiger Zustand, sondern vielmehr ein Indikator der Machtverhältnisse, ein Spiegel gesellschaftlicher Zustände.

Manche Politiker sind geradezu dafür berühmt, ihre Amtskollegen hinzuhalten. So musste Angela Merkel 2014 vier Stunden auf den russischen Präsenten Wladimir Putin warten, bis dieser sich bequemte und mit der Kanzlerin über die Ukraine-Krise sprach. Aber auch die Frage, wie lange Unternehmen ihre Kundinnen warten lassen und damit ihren Profit steigern, hängt von der eigenen (Markt-)Macht ab - beziehungsweise von der Ohnmacht der Verbraucher. Solche Abhängigkeiten setzen sich bis in unser Privatleben fort: Schon das erste Date ist oft ein Tanz zwischen Liebe und Macht; wer alleine am für zwei gedeckten Tisch sitzt, kämpft mit der Ungewissheit. Und mit den unangenehmen Blicken. Wer zu lange wartet, haut einfach wieder ab - oder hält die andere beim nächsten Mal auch etwas länger hin. Im Berufsleben ist das nicht so leicht. Ob absichtlich oder nicht, oft lassen Vorgesetzte ihre Angestellten warten. Doch wehe, es ist andersherum - dann droht die Kündigung.

Nur wer die nötige Macht besitzt, kann also selbst über seine Zeit entscheiden. Ansonsten tun das andere. Und so lässt sich die eigene Position in der Gesellschaft meist daran ablesen, wie lange man andere hinhalten kann - beziehungsweise wie lange andere bereit sind, auf einen zu warten. Diejenigen, die ohnehin mit wenig Macht ausgestattet sind, sollen praktisch immer zur Verfügung stehen, während Privilegierte ihre Termine kurzfristig absagen oder einberufen können - und man dann doch auf sie warten muss.

Die Macht, andere warten zu lassen, entsteht also nicht im luftleeren Raum, sondern ist Resultat bestehender Ungleichheiten und struktureller Diskriminierungen. Oft steckt der Teufel also im System. Und so sind Wartezeiten in einer Gesellschaft höchst ungleich verteilt. Diejenigen, deren Kühlschrank so leer wie der eigene Geldbeutel ist, müssen sich in die immer längeren Schlangen vor den Tafeln einreihen. Wer hingegen über das nötige Kleingeld verfügt, kann im teuren Exklusivladen einkaufen oder mit dem Taxi statt mit dem verspäteten Bus fahren. Und was ist der VIP-Eingang eigentlich anderes als ein institutionell legitimiertes Vordrängeln?

Doch nicht immer geht es nur ums Geld. Wer mit dem entsprechenden Pass geboren wird, braucht niemals bei der Ausländerbehörde zu warten. Als der Soziologe Barry Schwartz in den 1970ern in den USA die Wartezeit von Patient*innen beim Arzt untersuchte, stellte er fest: Arme warten länger als Reiche - und die Schwarze Bevölkerung trifft die Diskriminierung am stärksten, denn dort, wo die ärztliche Versorgung besser ist, wohnen in der rassistischen Tradition der sogenannten »Rassentrennung« immer noch vor allem Weiße.

Und schließlich müssen Frauen meist länger warten als Männer. Seit Homers Geschichte von Penelope und Odysseus gilt die Bereitschaft zu warten als Ausdruck der Liebe - und zwar vor allem der weiblichen. Im real existierenden Sozialismus wiederum standen in den Warteschlangen vor allem Frauen - obwohl auch sie berufstätig waren. Und bis heute warten Frauen auf Teilhabe und gleiche Bezahlung.

Vielleicht nirgendwo werden die Machtspiele des Hinhaltens aber so deutlich wie in den amtlichen Wartestuben dieser Welt. Dort trifft die institutionelle Macht des Staates mit der persönlichen Macht seiner Bediensteten zusammen. Das Ergebnis: Vermutlich an kaum einem Ort wird so viel gewartet wie hier. Diese ewige Warterei ist nicht allein mit einer schwerfälligen Bürokratie zu erklären, sondern sie wird auch als Machtinstrument eingesetzt. Als der Soziologe Javier Auyero mehrere Monate auf dem Sozialamt in Buenos Aires verbrachte, um die »Politik des Wartens« zu untersuchen, stellte er fest: Hinter den Demütigungen des stundenlangen Wartenlassens steckt eine »Regierungstechnik«, die auf Fügsamkeit und Konformität abzielt. So werden Bürgerinnen zu Bittstellerinnen gemacht. Und während schon Franz Kafka das Wartezimmer zum paradigmatischen Ort der Ohnmacht im Angesicht undurchsichtiger Bürokratie erklärte, lassen sich solche Befunde wohl problemlos auf die heutigen Verhältnisse in der Bundesrepublik und anderswo übertragen.

Wer andere warten lässt, verfügt also über Macht. Manchmal kann es aber auch von Vorteil sein, abzuwarten und den Sturm vorüberziehen zu lassen. Dies ist eine besondere, weil selbst gewählte Form des Wartens - und oft ist es ein Privileg. Denn nicht jede vermag die Dinge so einzurichten, dass die Uhr für sie und gegen andere tickt. Berühmt geworden ist etwa das Sitzfleisch Helmut Kohls, er saß Skandale einfach aus und wartete ab. Allerdings verfügte der Ex-Kanzler eben auch über die nötige Macht, um sich das leisten zu können. Was aber ist mit denjenigen, die nicht gerade über die Möglichkeiten eines Regierungschefs verfügen? Können auch sie sich beim Warten ermächtigen und Hierarchien aufbrechen?

Als Napoleon Bonaparte 1812 mit der bis dato vielleicht größten Armee aller Zeiten siegessicher gen Osten marschierte, hatte er mit einem nicht gerechnet: dass sich die Russen den Kämpfen entziehen. Sie lockten den Feind immer weiter ins Land - und warteten den Wintereinbruch ab. Schließlich jagten sie Napoleon samt seiner verbliebenen Soldaten aus dem Land.

Warten ist Zeit, und diese Zeit gilt es geschickt einzusetzen. Manchmal müssen Menschen aber noch viel mehr einsetzen - wie etwa beim Hungerstreik. Wer die Nahrung verweigert, wartet: auf die Erfüllung der eigenen Forderungen - oder auf den Tod. Die Suffragetten erkämpften so das Frauenwahlrecht in Großbritannien, Gandhi hungerte für die Unabhängigkeit Indiens. Doch nicht immer braucht es solch radikalen Protest. Und nicht alle sind dafür bereit. Dennoch lässt sich von den Ausnahmefällen lernen: wie Menschen aus der Verzweiflung Mut schöpfen und Wartezeiten auch mithilfe der Öffentlichkeit für ihre Anliegen nutzen. Außerdem macht der Kampf der Hungerstreikenden deutlich, wie wichtig es ist, gemeinsam zu kämpfen - und gemeinsam zu warten. Der Arbeitskampf ist dafür ein Paradebeispiel, er stellt der Macht der Arbeitgeber die Kraft des Kollektivs entgegen. Und die der Verzögerung.

Wer beim Warten also die gegenseitige Konkurrenz überwindet und solidarisch bleibt, kann den Mächtigen gefährlich werden. Das zeigt etwa auch die Praxis des Kirchenasyls. Dabei geht es darum, Fristen auszusitzen und Zeit zu gewinnen, in der man sich Verbündete sucht. Auch Javier Auyero berichtet, wie Menschen auf dem Sozialamt Netzwerke bilden, um die demütigende Wartezeit besser zu ertragen. Manchmal kann es aber auch sinnvoll sein, die aufgezwungene Wartezeit kollektiv abzubrechen: Schon Martin Luther Kings Buch trug schließlich den Titel »Why We Can’t Wait« - »Warum wir nicht warten können«.

Aber das Warten kann noch auf eine andere Weise subversiv wirken: wenn wir es als Sandkorn im Getriebe der pausenlosen Verwertungsmaschinerie begreifen. Wer es sich leisten kann, einfach mal abzuwarten, tagzuträumen und innezuhalten, entzieht sich dem Imperativ, dass Zeit Geld sei. In der modernen Welt ist der Sinn an den Fortschritt gekoppelt - doch wer nicht voranschreitet, macht sich dieser wirtschaftlichen Aneignung unzugänglich. Warten statt beschleunigen. Der Aufschub kann also auf verschiedene Weise ein Ausstieg aus dem Ereignisstrom sein: um die Langsamkeit einzuüben oder einfach mal nichts zu tun.

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