Der tiefe Ozean der Derya Yıldırım

Die Hamburger Sängerin und Lauten-Spielerin Derya Yıldırım und ihre Band Grup Simsek spielen jazzigen Pop mit funky Grooves

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Frau ist ein Kind des Hamburger Hafens. Derya Yıldırım, geboren 1993, wuchs zwischen roten Klinkerhäusern auf den Inseln der Veddel auf. Zwischen Norderelbe und dem Stadtteil Wilhelmsburg, unweit von Kränen, Docks und Lagerhallen. Eine Gegend, in der einmal fast ausschließlich Hafenarbeiter und später eine wachsende Zahl an Gastarbeitern wohnten. Vor Ort besuchte sie die Musikschule, lernte vier Instrumente gleichzeitig und sang im Chor.

Die Künstlerin ist der Beweis: Das Aufwachsen in einem als schwierig geltenden Viertel muss kein Nachteil sein. »Schon mit drei Jahren hat mir mein Vater zum ersten Mal eine Laute in die Hand gedrückt«, erinnert sie sich. »Darauf folgte die musikalische Früherziehung bei einer russischen Klavierlehrerin. So lernte ich gleichzeitig westliche und türkische Instrumente.«

Die vielseitige Bildung zahlte sich aus. Heute ist Derya Yıldırım eine der gefragtesten Musikerinnen Hamburgs. Die Lehramtsstudentin singt, komponiert und spielt die Saz, eine türkische Langhalslaute, auch Bağlama genannt. Sie tritt mit den renommierten Klassikern des Ensembles Resonanz, mit der Pop-Künstlerin Tellavision und mit ihrer eigenen Gruppe auf. In der Elbphilharmonie hat sie bereits dreimal gespielt, die »junge Welt« schreibt von einer deutsch-anatolischen »Psycho-Pop-Sensation«.

Denn so klingt ihre Band: Grup Şimşek spielen jazzigen Pop mit funky Grooves. Die psychedelischen Orgel- und Gitarrensoli erinnern an den Sechziger-Jahre-Rock von Bands wie The Doors oder Jefferson Airplane. Gleichzeitig orientiert sich das Quartett - vier Mitglieder mit Wurzeln in vier verschiedenen Nationen - an traditionellem anatolischen Folk.

Im Mai haben Derya Yıldırım & Grup Şimşek (Şimşek bedeutet Donnerschlag) ihr erstes Album veröffentlicht: »Kar Yağar« (Schnee fällt). Zwölf Songs, pure Betörung. Die Platte beginnt mit einem Orgel-Drone und einer beeindruckenden Stimme: hell, klar wie ein Gebirgsbach und von einer durchdringenden Schwermut, die nie in wirkliche Traurigkeit umschlägt. Nach einer Minute kommt eine traumverlorene E-Gitarre hinzu, die Moog-Orgel wimmert, ein schleppender Beat setzt ein.

Wer diese zutiefst sehnsuchtsvolle Stimme hört, mit der Yıldırım türkischen Pop ebenso wie eigene Songs intoniert, der stellt sich nicht die Frage, was diese Texte bedeuten. Der ist hingerissen von der Kunstfertigkeit und dem ungekünstelten Charme der Sängerin, die sich stets selbst auf der Bağlama begleitet. »Ich bringe keine tief in mir sitzende Trauer nach oben«, sagt die 25-Jährige. »Ich habe bestimmt etwas in mir, das ich erzählen möchte. Aber was genau das ist, kann ich nicht sagen.«

Mittlerweile lebt Yıldırım in Berlin. An der Universität der Künste studiert sie seit drei Jahren Musik auf Lehramt. Deutschlandweit ist sie die Einzige mit Hauptfach Bağlama. Ihre instrumentalen Kenntnisse vertieft sie bei dem renommierten Berliner Komponisten und Lauten-Virtuosen Taner Akyol. »Die Bağlama gehört zur Hausmusik dazu«, sagt Yıldırım. »In jeder türkischen Familie kann sie mindestens eine Person spielen. Sie ist wie das Klavier in deutschen Haushalten.«

Viele Erwartungen werden dieser Tage an sie herangetragen. Es braucht mehrere Anläufe, um sie am Telefon zu erwischen. Als es endlich klappt, seufzt die Künstlerin: »Ich muss gut spielen und gut aussehen, und studieren muss ich auch noch.« Am 14. November beginnt die letzte Tour des Jahres, die Derya Yıldırım & Grup Şimşek neben Berlin und Leipzig auch nach Skandinavien, Frankreich und in die Schweiz führen wird. Wenn 2019 vorüber ist, werden die vier mehr als 80 Konzerte in ganz Europa gegeben haben.

Für die Gründung der Gruppe ist ein DJ verantwortlich. Der Vinyl-Raritäten-Schürfer Sebastian Reier alias Booty Carrell stellte im Jahr 2014 für ein Festival des Hamburger Schauspielhauses eine Band mit Musiker*innen aus dem Stadtteil Veddel und internationale Künstler*innen zusammen. Grup Şimşek profitieren seitdem vom steigenden Interesse am Retro-Psychedelic-Rock. Die Band steht für einen tanzbaren Sound, den sie mit türkischem Pop und klassischer anatolischer Volksdichtung verbindet. Sie vertont zum Beispiel Aşık Mahzuni Şerif, ein in der Türkei ein hoch angesehener Poet. Dessen Stil fand Yıldırım während des Studiums bei deutschen Klassikern wie Schumann und Schubert wieder: »Ich kann die Seele dieser Komponisten verstehen.« Auch sie selbst ist eine Songwriterin, die sich, der Tradition der anatolischen Poeten folgend, selbst in ihre Lieder hineinschreibt. »Ich bin Derya, und ich tauche hinab in den tiefen Ozean«, singt sie, frei übersetzt, in einem Song, mit dem sie eine eigene Liebesgeschichte verarbeitet.

Yıldırım, die mitunter in Diskussionen über die postmigrantische Gesellschaft Stellung beziehen soll, zeigt sich genervt davon, dass man sie noch immer mit dem Zusatz »Migrationshintergrund« beschreibt. »Ich könnte auf irgendeinen Typen auf der Straße zugehen und sagen: Spiel mir was von Bach. Die meisten würden es nicht können. Ich habe mehr deutsche Kultur erlebt als viele mit deutschem Nachnamen. Das macht mich fertig!«

Legendenbildung ist zuweilen Teil der Berichterstattung über sie, doch sie will sich nicht damit abfinden. Die Mär vom steilen Aufstieg aus einem vermeintlichen Problemviertel weist sie von sich. »Ich bin eine stinknormale Derya gewesen, die auf ihren Vater gehört hat. Er hat mich dazu gebracht, jeden Tag zur Musikschule zu gehen. Dafür bin ich ihm dankbar.«

Wenn die Musikerin mit ihrer goldglänzenden Bluse auf der Bühne steht und mit geschlossenen Augen singt, strahlt sie eine große Ernsthaftigkeit aus. Bei Konzerten wirkt sie beinahe unnahbar, in sich ruhend. »Ich finde Zuflucht in diesen Liedern«, sagt sie über ihr Repertoire. Und fügt kryptisch hinzu: »Auf der Bühne bin ich am freiesten, wenn ich in einer Stimmung bin, in der die Lieder mich verstehen können.«

14.11. Berlin, Gretchen

15.11. Leipzig, UT Connewitz

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