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Was am Ende bleibt, ist der Tod
Fürs Kino gemacht, in der Glotze gelandet: Martin Scorseses neues Gangster-Epos »The Irishman«
Frank Sheeran sitzt im Seniorenheim und erzählt sein Leben: Er berichtet davon, wie er zum Vertrauensmann des Gewerkschaftsbosses Jimmy Hoffa wird. Wie er dem Ladenbesitzer, der seine Tochter geschubst hat, die Hand bricht; die Tochter schaut zu und hat von da an Angst vor ihrem Vater. Wie er einen Mafiaboss im Auftrag eines anderen Mafiabosses in einer Pizzeria erschießt. Geschichten über Gewalt werden auch in »The Irishman«, dem späten dritten Teil von Martin Scorseses Gangster-Trilogie, von den Gewaltmännern selbst erzählt. Der Gangster-Mythos zeigt sich in Scorseses Werk, unterschwellig und ohne einem diese Lesart aufzunötigen, immer auch als Ergebnis einer Selbstmythisierung.
Dieser Mythos, der die banale Wirklichkeit des organisierten Verbrechens im Kino umflort, war in den ersten beiden Gangsterfilmen Scorseses, »Good Fellas« (1990) und »Casino« (1995), immer beides: faszinierend und abstoßend zugleich. Beide Filme sind erschrocken über die Gewalt, die sie zeigen, und sie sind gleichzeitig fasziniert von ihr. Und in ihren dunkelsten Momenten auch berauscht.
Die Glanzlosigkeit, in der das Gangsterleben in »The Irishman« mit einem Mal erscheint, ist allerdings überraschend. »Good Fellas« führte einen noch mit suggestiven Kamerafahrten durch eine Welt, der man ansah, warum man ein Teil von ihr sein wollen könnte. Was in »Good Fellas« das Versprechen der Macht war, war in »Casino« der Überfluss. Scorsese inszenierte ein glamouröses Las Vegas voller strahlender Oberflächenschönheit, die von der Gewalt der Ökonomie dieses Ortes in gewisser Hinsicht unberührt blieb.
Sieht man »The Irishman«, weiß man nun nicht mehr, warum die Männer sich und anderen dieses Leben antun. Von den Macht- und Gewalträuschen aus »Good Fellas« ist nicht mehr viel übrig geblieben. Frank Sheeran (Robert De Niro) führt stumpf Aufträge aus, sprengt hier mal etwas in die Luft und bringt da mal jemanden um. Die Karriere kommt in Schwung, als er beginnt, Aufträge für den eng mit der Mafia verbandelten Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa (Al Pacino) auszuführen - vermittelt durch seinen Ziehvater Russell Bufalino (Joe Pesci).
»The Irishman« begleitet mit einer traumwandlerischen inszenatorischen Sicherheit das Leben Sheerans von den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis kurz nach der Jahrtausendwende. Das überraschend hohe Budget des Films - knapp 160 Millionen Dollar - soll vor allem durch den Einsatz von digitalen Bildbearbeitungen zustande gekommen sein, die es De Niro (Jahrgang 1943) erlauben, glaubwürdig einen Mann in seinen Dreißigern, seinen Fünfzigern und im hohen Alter zu spielen. Nur dass Sheeran auch zur Zeit seiner ersten Begegnung mit Bufalino läuft, als hätte er es altersbedingt im Kreuz. Da zeigt der Körper De Niros der Digitalisierung, aber auch der gesamten Method-Acting-Tradition die Grenzen auf.
Fast drei Stunden lang entfaltet sich das Leben und Wirken dieses Mannes, der kurz vor seinem Tod behauptete, er sei der Mörder Jimmy Hoffas, und in diesem Zuge gleich noch einige andere unaufgeklärte spektakuläre Mafia-Morde für sich reklamierte. Das Buch, das der ehemalige Ermittler Charles Brandt auf Grundlage von Interviews mit Sheeran geschrieben hat, bildet die Basis von »The Irishman«. Wie plausibel das späte Geständnis des echten Frank Sheeran ist, lässt sich nicht endgültig sagen und ist in diesem Zusammenhang auch egal. Ganz unabhängig davon, wie verlässlich der Wahrheitsgehalt der Erzählungen und Selbststilisierungen der realen Vorbilder seiner Figuren ist, ermöglicht Martin Scorsese den Blick in ein Leben, das im Kern um die permanente Androhung und Ausübung von Gewalt herum organisiert ist. Die hatte bei Scorsese bislang immer etwas Explosives, nicht nur in seinen Mafiafilmen. Und sie durchzieht und bestimmt alle Beziehungen. In »Wie ein wilder Stier« (1980) ist sie das, was den Protagonisten in seiner Welt scheitern lässt. In »Gangs of New York« (2002) bildet sie eine Art Ursprungsmythos der Stadt New York. In »Wolf of Wall Street« (2013) erscheint sie in sublimerer Form, aber auch hier gilt: Die Protagonisten in diesen Filmen stehen in einem tötenden Verhältnis zur Welt, die sie umgibt. Durch Gewalt hergestellte und konsolidierte Macht ist das, was diese Männer lebendig macht, und das, was sie am Ende zerstört.
Das Bild des Gangstertums, das »The Irishman« entfaltet, ist so trist wie bislang noch nie bei Scorsese. Sheeran war im Krieg, und das Leben als Soldat sei ein Leben in Angst, erzählt er Bufalino beim ersten Gespräch zwischen den beiden, das den Beginn von so etwas wie Freundschaft markiert. Die Angst und poröse Loyalitäten zwischen Männern sind das, was vom Gangsterleben hier übrig geblieben ist. Gewalt ist kein ambivalentes Faszinosum mehr. Ein Leben in der Parallelökonomie des organisierten Verbrechens besteht hier im Wesentlichen in Machtakkumulation als Zweck, Gewalt als Mittel und ständiger Anspannung und Angst als Resultat. Die Gewalt ist nur noch funktional. Ihre Autodestruktivität ist von Anfang an offenkundig: Sie entfremdet Sheeran von seinen Töchtern. Er wird alleine sterben.
Und das Sterben ist zentral in diesem Film, in dreierlei Hinsicht. Das Kino ist noch immer ein Ort, an dem Mythen fabriziert und reproduziert werden. Und die Leinwand somit ein Medium, in dem das Verhältnis von Mythos und Realität immer wieder neu bestimmt wird. Und »The Irishman« zerhaut den Gangstermythos, den das Genre uns hinterlassen hat, recht gründlich, aber ohne groß Aufhebens davon zu machen. Es ist ein Film über das Sterben dieses Mythos, der die paar Scherben wegräumt, die »The Sopranos« noch liegen gelassen hat.
Mit »The Irishman« lässt sich an die Debatten um den Tod des Kinos anschließen. Ein fast dreistündiges Gangster-Epos wird heute von keinem großen Studio mehr fürs Kino produziert. Die einzige Instanz, die Scorseses Projekt finanzieren wollte, war Netflix, ausgerechnet. So wird dieser Film, der mit jeder Einstellung zeigt, dass er für das Kino gedacht wurde, nach einer kurzen Kinoauswertung nur noch auf vergleichsweise kleinen Bildschirmen zu sehen sein. Scorseses Aversion gegen das Superhelden-Filme-Dauerfeuer, das die Leinwände der Multiplex-Kinos verstopft, wird auch mit dieser Produktionsgeschichte zusammenhängen.
Zu guter Letzt ist »The Irishman« auch ein Film über ein misslungenes Leben, das auf ein trauriges Ende zuläuft. Die letzte halbe Stunde gehört, obwohl eigentlich völlig unspektakulär, zum Niederschmetterndsten, was man in diesem Jahr im Kino zu sehen und zu spüren bekommt. Das letzte Gespräch mit der Tochter, die Einsamkeit im Seniorenheim, das Wissen, das einen niemand mehr besuchen wird, bevor man verschwindet. Neben vielem anderen, was er sonst noch ist, ist »The Irishman« in einem unmittelbaren Sinn ein Film über das Sterben. Ein Alterswerk für alle zentralen Beteiligten, De Niro, Pesci und Pacino, und natürlich auch für Scorsese. Ein Alterswerk, das, auch wenn Scorsese hoffentlich noch viele Filme drehen wird, sich anfühlt wie ein letzter.
»The Irishman«, USA 2019. Regie: Martin Scorsese; Darsteller: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci, Harvey Keitel. 209 Min.
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