Aufbruch zum Langen Marsch?

Die Parteilinken Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sollen die neuen Vorsitzenden der SPD werden

  • Georg Fülberth
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Votum der Parteibasis, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu den neuen SPD-Vorsitzenden zu wählen, ändert zunächst nichts an den Schwierigkeiten, mit denen ihre Partei zu kämpfen hat: Verlust an Stimmen und Mitgliedern seit vielen Jahren, Ruin der Glaubwürdigkeit, nachdem Gerhard Schröder und seine Crew sich 1999 für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien und ab 2003 für die Demontage des Sozialstaats hergaben. Wer nicht Personen allein die Schuld geben will, entdeckt strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft, die in nahezu ganz Europa die Grundlagen sozialdemokratischer Politik infrage stellen. Auf all diese Umstände müssen die Mitglieder reagieren. Dazu gehört die nicht nur rhetorische, sondern eine gründliche Überprüfung des bisherigen Kurses.

Die nun vieldiskutierte Frage, ob die SPD die Große Koalition verlassen solle, berührt nur die Oberfläche und könnte von der Grundproblematik ablenken. Norbert Walter-Borjans, der einer solchen Lösung eher zuneigt, hat das offenbar erkannt, und deutet an, sie allenfalls zögernd in Angriff zu nehmen. Er und Saskia Esken wollen zuerst über Veränderungen im Koalitionsvertrag verhandeln. Nur wenn diese nicht erreichbar ist, rückt für die beiden der Exit nahe. Damit begibt sich die neue SPD-Spitze in Abhängigkeit von der Union. Wenn diese ihr die kalte Schulter zeigt, kann sie die neue sozialdemokratische Führung zwingen, entweder ihren Ankündigungen nachzuspringen oder nicht mehr ernst genommen zu werden. Damit wäre sie mattgesetzt. Irgendwann können CDU und CSU der SPD ohnehin von sich aus den Stuhl vor die Tür setzen.

Ob die Union dies tun würde, ist nicht sicher. In einer Minderheitsregierung wäre sie schwach, allein könnte sie im Bundestag keine eigenen Vorhaben durchbringen. Da immerhin der Haushalt für 2020 verabschiedet ist, mag der Vorrat bis zum Ende des nächsten Jahres reichen. Dann aber ist Schluss - und Wahlkampf.

Den wollen die Grünen ohnehin lieber heute als morgen beginnen: Ihre guten Umfragewerte laden dazu ein, doch sprechen gegen einen sofortigen Eintritt in eine Koalition mit Union und FDP, so erpicht aufs Regieren die Parteivorsitzenden Baerbock und Habeck auch sind. In eine solche Regierung brächten sie nur ihr recht schwaches Ergebnis von 2017 ein (8,9 Prozent), während sie nach einem Sieg in der nächsten Wahl ganz anders auftrumpfen könnten (derzeit werden ihnen 20 Prozent vorhergesagt).

Da die CDU zur Zeit schwächelt und auch ihre Führungsfrage noch nicht endgültig beantwortet hat, wird sie es vorziehen, die SPD vorderhand- noch in der Regierung zu halten und dort weiter zu verschleißen, bis zu einer Katastrophe für die Partei im Wahljahr 2021. Es ist nämlich nicht abzusehen, dass die SPD sich in der Großen Koalition erholen kann. Selbst einige Zugeständnisse, die sie ab 2017 erreichte - so die wenngleich magere Grundrente - haben ihr nicht aufgeholfen. Andere Projekte gleicher Größenordnung stehen nicht in Aussicht. Nicht nur cholerische Aufwallung, sondern auch kühles Kalkül müssten also nahelegen, dass die SPD die schwarz-rote Koalition rasch verlässt. Dies dürfte eine lange Oppositionszeit nach sich ziehen. Wahrscheinlich würde die SPD vom autoritätsgläubigen und stabilitätsliebenden Teil ihrer Anhängerschaft fallengelassen werden und dadurch bis kurz vor die Fünfprozenthürde sinken.

Erst nach einem solchen Sprung ins Dunkle wäre ein Neuaufbau möglich. Voraussetzung dafür ist die Revision all dessen, was seit Schröder und Scholz falsch gemacht worden ist. Und dabei stellen sich zwei Fragen. Erstens: Haben Esken und Walter-Borjans das Zeug dazu? Zweitens: Finden sie dabei genügend Rückhalt in ihrer Partei? 53 Prozent Zustimmung bei einer Beteiligung von 54 Prozent sind nicht viel, zumal einige der Ja-Stimmen auch Trotzreaktionen gewesen sein dürften.

Es ist bekannt, dass Norbert Walter-Borjans vor seiner Kandidatur für den Vorsitz gezögert hat. Treibende Kraft soll die Bundestagsabgeordnete Saskia Esken gewesen sein. Sie ist bislang eher unbekannt und ein typisches Mitglied des seit langer Zeit schwachen Landesverbands Baden-Württemberg. In diesem Milieu gedeihen Gesinnungsethiker wie der kürzlich verstorbene Erhard Eppler und charakterstarke Verbitterte.

Norbert Walter-Borjans ist ein Parteilinker und zugleich versierter Fachpolitiker. Als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen war er eine Art Robin Hood im Kampf gegen Steuerbetrüger. Die Agenda 2010 selbst hat er damit aber noch nicht infrage gestellt.

Weitergehen könnte die SPD in einer Bundesregierung nur, wenn das marktradikale Umfeld national und international Risse zeigte. Danach sieht es zunächst nicht aus. Im Ergebnis müsste sich die Sozialdemokratie auf einen verdammt langen und einsamen Marsch begeben. Will sie das? Hier ist die Frage, ob es dafür eine stabile innerparteiliche Unterstützung gäbe.

Hinter Esken und Walter-Borjans stehen 80.000 Jusos. Ihre Vorgängergenerationen sind in der Vergangenheit meist rasch gealtert. Für Kevin Kühnert mag das nicht gelten: Er ist ein fundiert argumentierender sowie intellektuell begabter Politiker und verdient einen Vertrauensvorschuss, weil man bisher noch nichts von der leeren Oppositionsgestikulation früherer Juso-Vorsitzender bei ihm gemerkt hat. Aber das allein reicht nicht. Als Oskar Lafontaine 1999 zurücktrat, öffnete sich hinter ihm eine gähnende Leere.

Für derlei Bedenken gibt es Stoff genug. Aber die Situation ist alternativlos. Die SPD ist so weit gekommen, dass sie jetzt weder etwas falsch noch etwas richtig machen kann.

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