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Russische Frauen wollen nicht sterben

Gesetz gegen häusliche Gewalt trifft auf Widerstand / Prügeln soll privat bleiben

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Million Unterschriften sind das nächste große Ziel der Kampagne für die Verabschiedung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt in Russland, fast 900 000 Signaturen waren es in der ersten Dezemberwoche. Unterschriften erfolgen zuweilen im Minutentakt. Auf dem Onlineportal change.org lässt sich live verfolgen, wie vor allem Frauen unterzeichnen: Julia Andrejewa, Witalina Wolkoresowa, Marina Glebowskaja… Gründe gibt es leider mehr als genug. Eine Frau ist mit ihrem Kind selbst Opfer geworden, eine andere möchte, dass die Situation sich insgesamt verbessert und Männer wie Iwan Rys und Maxim Akskonow sind vom Ausmaß der Gewalt entsetzt und halten ein Gesetz deshalb einfach für notwendig.

Dessen Koautorin und Mitinitiatorin der Petition, die Juristin und Menschenrechtlerin Aljona Popowa, wird bei ihren zahlreichen TV-Auftritten und in Interviews nicht müde, immer wieder auf 14 000 getötete Frauen und insgesamt 16 Millionen Opfer häuslicher Gewalt jährlich in Russland zu verweisen. Traurige Bestätigung finden ihre Anklagen in sozialen Netzwerken, wo Frauen Fotos von sich selbst veröffentlichen: Würgemale, aufgeplatzte Lippen, blutige Augenbrauen, Hämatome und auf dem Oberkörper der Hashtag »Ja ne chotjela umirat« (Ich wollte nicht sterben). Auf Kundgebungen halten Frauen Plakate mit der Aufschrift »Selbstverteidigung ist kein Verbrechen« hoch.

Sie solidarisieren sich mit den drei heute 18, 19 und 20 Jahren alten Schwestern Chatschaturjan. Diese kamen unter der Anklage vor Gericht, ihren Vater getötet zu haben. Der habe sie jahrelang gequält und missbraucht, macht die Verteidigung gelten. Mehr als 200 000 Menschen forderten vergeblich, die Mordanklage fallen zu lassen.

Auch für den Gesetzentwurf gegen häusliche Gewalt sieht es nicht gut aus. Schon vor dem 15. Dezember 2019, dem von Föderationsrat gesetzten letzten Termin für Kommentare und Vorschläge, fürchtet Aljona Popowa noch kurz vor dem Ziel ein Scheitern. Am 3. Dezember forderte sie zur »Rettung« des Gesetzes und dazu auf, sich an das Oberhaus und die Administration des Präsidenten zu wenden. Aus der jetzigen Fassung des Föderationsrates seien alle Hinweise auf jede Art physischer Gewalt gestrichen worden. Als Ziel sei die »Festigung der Familie«, jedoch in keiner Weise mehr der Schutz der Opfer formuliert worden. Gegen die nun eingefügte »Übereinkunft der Seiten« verweist sie auf die Erfahrung, dass eben nach solcher »Übereinkunft« nicht selten der Gewalttätige das Opfer tötete.

Wieder einmal heiße es: »Dummerchen, selbst schuld, wolltest dich wohl nicht friedlich einigen?« Wie viele Tote müsse es noch geben, bis die Gesetzgeber verstehen, dass es um den Schutz der Opfer gehen müsse. Doch das Parlament habe Fundamentalisten und dem orthodoxen Patriarchat seine Reverenz erwiesen. Die Abgeordneten könnten den Gesetzestext »kastrieren«, weil sie in ihm einen »Verstoß gegen traditionelle russische Werte sehen«, sagte Popowa. Der bereits 42. Anlauf zu dem Gesetz in zehn Jahren stoße auf starken Widerstand konservativer und ultrakonservativer Kräfte im Parlament, bestätigte die Direktorin der Menschenrechtsorganisation Assol, Irina Karkora.

»Fasst die Familie nicht an«, forderten rund 100 ihrer Parteigänger auf einer Kundgebung im Sokolniki-Park Ende November. »Die Familie ist der sicherste Ort auf der Erde« und das »Gesetz verbannt die Männer aus der Familie«, plakatierten sie. Rund 200 - meist fundamental-orthodoxe - Organisationen baten Präsident Wladimir Putin, den Gesetzesentwurf fallenzulassen. Dieser richte sich gegen Familienwerte und das Recht auf Privatsphäre. Ein Sprecher der russisch-orthodoxen Kirche unterstellte, der Gesetzesentwurf basiere auf den Vorstellungen westlicher Regierungen. Eine Strafmilderung bei häuslicher Gewalt hingegen war im Jahr 2017 verabschiedet worden. Die Straftat mit der Androhung von bis zu zwei Jahren Gefängnis wurde »entkriminalisiert« und zu eine Ordnungswidrigkeit mit Geldstrafe herabgestuft - im Schnitt in der Höhe von zweimal Falschparken in der Moskauer Innenstadt.

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