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Auf Gespensterjagd
Ein Drogentrip von Ziemowit Szczerek durch ein dauerdämmerndes Polen
Hunter S. Thompson beschrieb sein Gonzo-Genre mal provokant als »professionellen Amoklauf«. Exzentrik, exzessive Räusche und bizarre Vorstellungswelten sollen die äußere Realität verschlingen, bis nur noch eine subjektive Verzerrung übrig bleibt. Zu den Zutaten für diese Ästhetik gehören Bewusstseinsbomben wie LSD oder eben das psychotrope Meskalin, enthalten in der Pflanzenart Lophophora williamsii. Eine Blüte dieser berauschenden Kaktusart - die rote, sechsfingerige Gonzo-Faust hält sie ganz fest zwischen ihren beiden Daumen.
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Ziemowit Szczerek: Sieben. Das Buch der polnischen Dämonen. A. d. Poln. v. Thomas Weiler. Voland & Quist, 288 S., geb., 22 €.
Dieses Symbol zierte bereits das Cover von Ziemowit Szczereks fiktiver Reisereportage mit dem langen Titel »Mordor kommt und frisst uns auf oder eine geheime Geschichte der Slawen«. Mordor sollte den düsteren, wilden, postsowjetischen Osten markieren, in diesem Fall die Ukraine (vor der Krim-Annexion), in die sich Szczereks Protagonist damals stürzte. Es war zugleich eine Satire der Reisereportage, eine Kerouac-Hommage, in der fleißig Wodka gekippt und große Motive verhandelt wurden: Zivilisierung und Verwestlichung, Nationalgeschichte und Identität.
Üppige historische Anlehnungen und Rauschzustände füllen auch Szczereks neue Road-Novel »Sieben«, aus dem Polnischen übersetzt von Thomas Weiler. Pawel, ein Journalist für ein Fake-News-Internetportal, muss nach Warschau, wo eine Redaktionskonferenz auf ihn wartet.
Die Fahrt entpuppt sich als Reise in eine Dauerdämmerung, als Pawel in Krakau in seinen Opel Vectra steigt, verkatert und kaputt. Wie alle an Allerheiligen in dieser »Hauptstadtleiche«, in der die Bewohner in Kostümen durch die Straßen geistern, als »Marshal-Piłsudski-Zombie« oder in Gewändern anderer Gestalten aus der polnischen Geschichte. »Da ergossen sich also im Großen und Ganzen Ströme betrunkener, grölender Tanzwütiger aus den Kneipen auf die Straße, dass die Taxis in dieser schwarzen Wodkafiesta stecken blieben. Krakau bei Nacht sah aus, als wäre der Gipfel der Menschheitsgeschichte ein einziges großes Pub, ein Alko-Disneyland, als fiele den Menschen, die in dieser Stadt lebten oder die sie besuchten, nichts anderes ein, als sich maximal die Kante zu geben und den schwarzen Krakauer Asphalt abzulecken, das dunkle, pseudohistorische Pflaster aus den Neunzigern.«
Alkoholismus und Nationalismus bilden die Säulen des Alltags, in dem sich Rausch und chauvinistischer Größenwahn durchdringen. Die Landstraße Sieben, die »Königin unter Polens Landstraßen«, die Pawel wie seine Heimat befährt, zeichnet Szczerek als Metapher der polnischen Geschichte. Und die ragt wie ein einziges Trauma in die Gegenwart einer Gesellschaft, die sich noch immer im Würgegriff zweier Großmächte wähnt: auf der einen Seite das Exportmonster Deutschland, welches das Nachbarland vor allem mit Neuwagen flutet. Während sich im Osten Russland bedrohlich erhebt, das immer wieder in den Schlagzeilen als Invasor anklingt und was schließlich scheinbar wahr wird.
Putins möglicher Militärschlag mobilisiert Ängste und ermöglicht ein »Clicalitas-Paradies«, an dem Pawel selbst mitwirkt. Das Echo dieses nationalistischen Fake-News-Wahns sind die finsteren Figuren, denen er während der Fahrt begegnet. Da sieht sich ein Hexer namens Geralt als Nachfahre der Flügelhusaren, um wieder zum wahren Kern des Polnischen vorzudringen. Pawel, bereits angetrunken am Steuer, erhält von diesem Okkultisten halluzinogene Lebenselixiere, sodass sich Realität und Rausch in seiner Wahrnehmung vermischen. Verstärkt wird diese Schwerelosigkeit dadurch, dass Szczerek aus der Du-Perspektive erzählt.
Pawel vergleicht sich mit Kowalski, jenem Ex-Rennfahrer, der im Roadmovie »Vanishing Point« Amphetamine schnupft, um seinen Dodge Challenger auf der Flucht von der Polizei durch die USA zu jagen. Doch Pawel setzt seinen Opel bereits früh in einen Straßengraben. Kurz darauf wird er von einem Trupp von Hipstern mitgenommen. Ihr Ziel: »den größten Bullshit in Polen kurz und klein ficken«. Zu ihrer Zielscheibe wird ein Kaufhaus, in dem die Ahnen aus der polnischen Geschichte kommerzialisiert werden.
Polens Gespenster prägen selbst die neue Warenwelt, der öffentliche Raum erscheint als einzige Formlosigkeit, als Chaos, wie Pawel immer wieder beklagt. Durch die Wirkung der Elixiere erheben sich die historischen Gestalten zu Dämonen, gegen die Pawel kämpft. Von slawischen Fürsten und Königen bis hin zu Wawel-Drachen. Dieser Drogentrip durch ein dauerdämmerndes Polen ist ein Gruß an das Gonzo-Genre.
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