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Grelle, ekstatische Strophen
Zum Hundertsten: »Menschheitsdämmerung«, das berühmte Gedichtbuch, in der Jubiläumsausgabe
Der Krieg war erst ein knappes Jahr vorbei, die Welt geschunden und das Land in tiefer Not, als der Rowohlt-Verlag im Herbst 1919 einen Lyrikband vorlegte, von dem niemand ahnte, dass er einmal zu den legendären Büchern des Jahrhunderts zählen würde.
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Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Rowohlt, 423 S., geb., 34 €.
Es dauerte nicht lange, dann waren 20 000 Exemplare verkauft, für eine Gedichtsammlung ein erstaunlicher Erfolg; und »Menschheitsdämmerung«, diese »Symphonie jüngster Dichtung« mit Texten von Becher und Benn bis zu Werfel, Wolfenstein und Paul Zech, hat ihre Haltbarkeit und Faszination bis heute nicht verloren.
Von den Nazis als »entartet« verboten, kam sie 1959 in einem (seitdem ständig lieferbaren) Rowohlt-Taschenbuch wieder (1968 auch bei Reclam in Leipzig), und weil sie nun hundert Jahre in der Welt ist, hat ihr Rowohlt ein Festkleid gegönnt und eine besonders schöne, liebevoll gestaltete und vorzüglich gedruckte Ausgabe in Ganzleinen und mit farbigem Folienumschlag in die Sortimenter gebracht, natürlich mit den berühmten Porträtzeichnungen Oskar Kokoschkas, Egon Schieles oder Ludwig Meidners sowie einem Nachwort von Florian Illies.
Schöpfer der Anthologie war Kurt Pinthus (1886-1975), Lektor im Kurt-Wolff-Verlag und Berater Ernst Rowohlts, Literatur- und Theaterkritiker und intimer Kenner der Lyriker im Jahrzehnt zwischen 1910 und 1920. Er war der Erste außerhalb des Freundeskreises, der das Genie Georg Heyms erkannte und würdigte, der 1922 mit Heyms Freund Erwin Loewenson auch die erste Gesamtausgabe der Dichtungen herausgab. Er lebte mitten unter diesen meist jungen, aufsässigen Leuten, die in den Vorkriegsjahren ihre Qualen, ihren Schmerz, ihren Protest und ihre Sehnsüchte in grellen, schäumenden, ekstatischen Strophen bannten, war befreundet mit Walter Hasenclever, Franz Werfel und anderen, kannte alles, was Poeten irgendwo veröffentlichten, und auch, was noch in Schubladen lag.
Aus dem Wust dieser Gedichte wollte er zusammenfügen, was ihm charakteristisch erschien. Noch fehlte jeder zeitliche Abstand, um die vorliegenden Gedichte stichhaltig ordnen und bewerten zu können, das Repräsentative in der Masse des Gedruckten und Ungedruckten zu finden, aber er war kühn genug, es zu wagen. Seine Auswahl, mit bewundernswerter Sicherheit getroffen, wurde tatsächlich ein Generationenbuch, und schon 1922, als der Verlag eine Neuauflage plante, stellte Pinthus mit Genugtuung fest, dass es nichts auszusondern und nichts zu ergänzen gab.
»Alle Gedichte dieses Buches«, schrieb er 1919 im Vorwort, »entquellen der Klage um die Menschheit, der Sehnsucht nach der Menschheit … Diese Dichter fühlten zeitig, wie der Mensch in die Dämmerung versank …, sank in die Nacht des Untergangs.«
23 Autoren sprechen hier, darunter lediglich eine Frau: Else Lasker-Schüler. Sie prophezeien die kommenden Katastrophen, die Auslöschung der alten Welt (Jakob van Hoddis’ »Weltende« eröffnet nicht zufällig die Sammlung), beschwören das Chaos, die Verzweiflung über die lähmenden Zustände im kaiserlichen Deutschland; es geht ihnen buchstäblich um Leben und Tod und die Utopie eines Daseins in brüderlicher Gemeinschaft. »Doch über allen Worten«, heißt es selbstbewusst in den letzten Zeilen des Bandes bei Franz Werfel, »verkünd ich, Mensch, wir sind!!«
Vierzig Jahre später, als Pinthus den Neudruck der Anthologie für den Rowohlt-Verlag vorbereitete, ergänzte er das Buch mit einem weiteren Vorwort und einem umfangreichen Anhang, der Auskünfte über die versammelten Dichter und ihre Werke enthielt. Und dort erfuhren die meisten Leser zum ersten Mal, was aus allen wurde, wie sie überlebten oder untergingen.
Tragödien beinahe auf jeder Seite: Georg Heym ertrank schon 1912 im Wannsee, Georg Trakl tötete sich mitten im Ersten Weltkrieg, August Stramm fiel in Russland, andere, die im Krieg davonkamen, wählten 1933 das Exil. Jakob van Hoddis wurde in einer Heilanstalt interniert und später umgebracht, Else Lasker-Schüler hungerte in Jerusalem, Albert Ehrenstein führte in New York ein Leben in bitterer Armut, auch Kurt Pinthus floh 1937 in die USA, Walter Hasenclever und Alfred Wolfenstein verübten Selbstmord, die wenigen, die in Hitler-Deutschland ausharrten, verstummten.
Auch diese Ausgabe wurde ein Ereignis. Sie brachte eine literarische Epoche zurück, die 1933 ausgelöscht worden war. Heute, hundert Jahre nach dem ersten Erscheinen, kann der Jubiläumsdruck auf die 1959 von Pinthus nachgelieferte Aufklärung verzichten. Ausstellungen, weitere Anthologien und Werkausgaben haben das Bild expressionistischer Dichtung beträchtlich erweitert und vertieft. Rowohlt entschloss sich deshalb zu Recht, die Sammlung in ihrer ursprünglichen Gestalt vorzulegen: mit dem Text von 1922, der vierten und letzten Auflage aus den Weimarer Jahren, die einige Nachlässigkeiten von 1919 beseitigte.
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