- Kultur
- Bücher zum Verschenken
Alle wissen davon, aber niemand unternimmt etwas dagegen
Yavuz Ekinci beschreibt die Misere der Propheten: Sie werden einfach nicht gehört
Eigentlich ist Yavuz Ekincis Roman »Die Tränen des Propheten« das Buch der Stunde. Klimakrise, Kriege und Hungersnot: Alle wissen davon, aber niemand unternimmt ernsthaft etwas dagegen.
• Buch im nd-Shop bestellen
Yavuz Ekinci: Die Tränen des Propheten. A.d. Türk. v. Oliver Kontny. Kunstmann, 200 S., geb., 18 €.
Die Zahl der Flugreisenden nimmt Monat für Monat zu, der Krieg in der Ukraine geht weiter, und in Jemen droht noch immer eine Hungersnot. Gleichzeitig ist der Roman über Mehdi, dem der Erzengel Gabriel erscheint, auch nur ein Buch über die Misere der Propheten ganz allgemein. Denn die, die vor den Gefahren warnen, wurden ja schon immer nicht gehört. Allerdings muss der Spruch »Der Prophet gilt nichts im eigenen Land« in Zeiten von Facebook und Twitter in »Der Prophet gilt nirgendwo etwas« umgeändert werden. Greta Thunberg ist überall auf der Welt bekannt, aber wirklich verändert hat sie so gut wie nichts.
Yavuz Ekincis Held und Prophet ist der Informatiker Mehdi. Seine Frau und seine Tochter Şinda sind für ein paar Tage ohne ihn ans Meer gefahren. Zu Hause hütet er die Katze, den Goldfisch und den Kanarienvogel seiner Tochter und versorgt das Hühnerauge an seinem rechten Fuß. Außerdem liest er in seinen zahlreichen Ausgaben religiöser Schriften. Besonders angetan haben es ihm die Miniaturen in alten Handschriften. Dabei ist Mehdi weder besonders fromm noch dogmatisch. Er zitiert Jesus und Johannes wie Mohammed und die Propheten anderer Religionen. Nur eine Szene in einer Moschee beim Freitagsgebet weist auf seine muslimische Sozialisation hin.
Eines Tages zieht draußen vor seiner Wohnung ein gewaltiges Gewitter auf. Şindas Kanarienvogel fliegt schreiend gegen das Gitter seines Käfigs. Auch der Goldfisch schwimmt ununterbrochen gegen das Glas seines Aquariums. Um Schlimmeres zu verhindern, öffnet Mehdi den Vogelkäfig und lässt den Kanarienvogel frei. Der jedoch fliegt nach ein paar Runden durchs Zimmer mit voller Wucht gegen eine Wand. Inzwischen ist auch der Goldfisch aus dem Aquarium gesprungen und verendet nach fruchtlosen Rettungsversuchen Mehdis. Und die Katze ist gleich ganz verschwunden. »Dreimal hintereinander ertönte ein Donner am Himmel. Alles Glas begann zu bersten und zerplatzte in feine, kristalline Stücke, die wie winzige Eisbröckchen durch den Raum schossen.« Und dann »schlug der Blitz ein, und in Begleitung des Rauschens Hunderter Flügel stieg der Erzengel mit sechs Fittichen vom Himmel herab.« Und sagte zu Mehdi: »Oh Mehdi! Du bist der Gesandte Gottes und ich bin Gabriel!« Danach war es um Mehdi geschehen.
Eine Sensibilität für den Schrecken in der Welt hatte Mehdi bereits vor seiner Berufung durch den Erzengel. Aber er hat auf seinem Twitter-Account nur wenige Follower. Ironisch stellt Yavuz Ekinci seinen Protagonisten vor jedem Abschnitt in den ganz großen Zusammenhang der Propheten vor ihm. In der Geschichte selbst gibt es ebenfalls zahlreich Hinweise auf die religiösen Klassiker. So lebt Mehdi »in der großen Stadt«, die in der Bibel als Babylon auftaucht, aber genauso Istanbul sein könnte wie jede andere große Stadt, beispielsweise Diyarbakır im kurdischen Osten der Türkei, der Gegend, aus der auch Ekinci stammt. Die ersten Kandidaten, die Mehdi als Jünger geeignet erscheinen, erinnern an die Passionsgeschichte. In seinem Stadtviertel gelingt es ihm, den Friseur, den Bäcker und einen Fischer dazu zu bringen, mit ihm auf das höchste Gebäude der Stadt zu klettern, um von dort aus den Aufgang des Mondes zu beobachten. Der soll, so prophezeit er, sein Antlitz tragen. Aber die drei genießen nur die schöne Aussicht, und als der Mond dann ohne Mehdis Gesicht aufgeht, machen sie sich über ihn lustig.
Der Religionsphilosoph Paul Tillich beschrieb die Schwierigkeit der Prophetie als eine Orientierung an einer unbedingten sozialen Forderung, zum Beispiel nach Gerechtigkeit und universellen Menschenrechten. Unmittelbarer und einfacher sei dagegen die Orientierung an Nation, Boden und Familie. Denn für die unbedingte soziale Forderung sei ein Bruch mit diesen Ursprüngen nötig, die den Idealen von Gerechtigkeit und universellen Menschenrechten entgegengesetzt sind.
Ganz allgemein orientieren sich alle linken und liberalen politischen Bewegungen an dieser aus der Prophetie hervorgegangenen Idee. Alle konservativen und reaktionären Bewegungen dagegen an den Ursprungsmächten des Bodens (wie im Nationalismus) und der Abstammung.
Yavuz Ekinci ist sich der Widersprüche seines Propheten bewusst. So erzählt er von der Eitelkeit Mehdis, die ihn immer schon daran denken lässt, wie ihn die Miniaturenkünstler einst in diesem oder jenem Augenblick seines Lebens festhalten werden. Ziemlich schnell ist klar, dass etwas mit Mehdi nicht stimmt; aber gleichzeitig hat er recht. Wie der Narr am Hof der Fürsten spricht er die Wahrheit in seinem Irrsinn aus. Am Ende scheint sich seine Geschichte dann doch noch zu wenden. Aber der Preis dafür ist hoch.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.