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Halbherzige Revolutionen
Das faszinierende Panorama Europas im 19. Jahrhundert von Richard J. Evans
Die angelsächsischen Historiker beherrschen das Metier der Geschichtsschreibung, vermögen spannend, unterhaltsam und erkenntnisreich zugleich zu erzählen. Das beweist einmal mehr das neue Buch von Richard J. Evans. Der Brite folgt in seiner Geschichte Europas im 19. Jahrhundert einem transnationalen Ansatz, handelt die Geschichte der europäischen Staaten nicht nacheinander ab, sondern kombiniert die politische Geschichte, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte des Kontinents und leitet dabei geschickt von einem Land zum anderen über.
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Richard J. Evans: Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Aufbruch 1815–1914. DVA, 1022 S., geb., 48 €.
Alle acht Kapitel beginnen mit der Lebensgeschichte eines Menschen. Beim ersten geht es um den Steinmetz und späteren Bauunternehmer Jakob Walter (1788-1864) aus dem württembergischen Ellwangen, der 1812 als Soldat den Russland-Feldzug Napoleons mitmachen musste. Beim siebten Kapitel ist es die britische Frauenrechtlerin (»Suffragette«) Emmeline Pankhurst (1858-1928).
Kapitel 1 (»Das Erbe der Revolution«) beginnt mit einer eindringlichen Schilderung des Massenelends als Folge der napoleonischen Kriege, verschärft durch den Ausbruch des Vulkans Tambora. Sodann werden »Widersprüche der Freiheit«, insbesondere der Agrarreformen in Europa, erörtert, um anschließend die politische Entwicklung auf dem Kontinent von den 1830er bis zu den 1870er Jahren zu durchmessen.
Im Mittelpunkt stehen naturgemäß die Revolutionen von 1848/49. Über deren Wirkung schreibt der Autor: »Die Revolutionen von 1848 sind im Rückblick oft als halbherzig und gescheitert abgetan worden, doch den Zeitgenossen stellte sich die Sache ganz anders dar. Nichts sollte in Europa nach den Ereignissen von Januar bis Juli 1848 je wieder sein wie zuvor.«
Ausführlich widmet sich Evans der industriellen Revolution und ihren Auswirkungen. Und im Kapitel »Die Eroberung der Natur« berichtet er kenntnisreich über Innovationen wie Eisenbahn, Auto, Flugzeug, Zeitmessung, Telegraf und Telefon, aber auch über Seuchen, Sterblichkeit, Sexualität, Todesstrafe, Geisteskrankheiten etc. Unter dem Stichwort »Zeitalter des Gefühls« beschäftigt er sich in aller Breite mit Kultur und Geisteshaltung, Musik, Malerei und Literatur, mit Religion, Antisemitismus, Nationalismus, Bildung, Universitäten, Presse und Kinematographen.
Einen Aufstieg der Demokratie sieht er in den Jahren zwischen 1871 und 1914. Am Anfang steht für ihn der Kampf um das Frauenwahlrecht. Im entsprechenden Abschnitt zu Russland ist allerdings das Wort Narodniki mit dem deutschen Wort »Populisten« nicht exakt übersetzt. Über die Wirkung, die der Kampf der europäischen Arbeiterbewegung zeitigte, schreibt Evans: »Trotz ihrer Gespaltenheit waren organisierte sozialistische Bewegungen der wohl mächtigste Faktor, der im Vierteljahrhundert vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Demokratisierung vorantrieb.«
Eingehend beschreibt Evans den europäischen Kolonialismus und Imperialismus. Er zeigt: Militärs, die den Krieg für unvermeidlich hielten, und zivile Bellizisten, die vom künftigen Krieg schwärmten, gab es nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in Großbritannien und Frankreich. Der letzte Abschnitt in diesem Kapitel ist überschrieben mit »Countdown zur Katastrophe«.
Evans breitet eine riesige Fülle interessanter Details aus und urteilt ausgewogen. Er ist ein begabter Erzähler. Sein Band enthält zahlreiche Anekdoten und griffige Kurzbiografien. Kurzum: Richard J. Evans hat ein faszinierendes Panorama Europas im 19. Jahrhundert vorgelegt.
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