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Selenskyjs wertloser Sieg
Ukrainischer Präsident hofft auf die Kraft des Dialogs beim Gipfeltreffen zum Donbass-Krieg
Vor der Abreise des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Paris wurde es noch einmal laut auf dem Maidan. Die vom Ex-Präsidenten Petro Poroschenko angeführte prowestliche Opposition versuchte auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, Druck auf das erste Treffen der Staatschefs Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine seit Ende 2016 zur Lösung des Donbass-Kriegs im sogenannten Normandie-Format auszuüben. Bis zu 2000 Menschen versammelten sich am Sonntag, um gegen die angebliche Kapitulation zu demonstrieren. Gemeint ist damit unter anderem die durch das Minsker Abkommen vorgesehene Austragung von Kommunalwahlen im Donbass noch vor Übergabe der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze in der Region an Kiew.
Ab Sonntagabend wollten die Protestierenden zudem ein Zeltlager vor dem Präsidentenbüro in der Bankowa-Straße aufbauen, das mindestens bis zum Ende der Normandie-Verhandlungen an diesem Montagabend offen bleiben soll. Zwar war die Demonstration etwas übersichtlicher als die vorherigen Antikapitulationsproteste - und sie repräsentiert eher den kleineren Teil der ukrainischen Gesellschaft. Dieser ist aber politisch aktiv und lässt sich in der Regel in der Hauptstadt schnell mobilisieren, was Selenskyj zusätzliche Kopfschmerzen vor den ohnehin komplizierten Verhandlungen bereiten sollte.
Seit dem letzten Normandie-Gipfel hat sich im Donbass kaum etwas bewegt. Der Stellungskrieg auf der Frontlinie lief schlicht weiter, die aktuelle Opferzahl beträgt laut UN-Angaben bereits über 13 000 Menschen. Nachdem aber der Ex-Komiker Selenskyj im Mai das Präsidentenamt übernahm, begann auch seine Friedensoffensive. In den letzten Monaten gelang es unter anderem einen großen Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland durchzuführen. Zusätzlich werden an drei Orten an der Frontlinie gemäß einer Vereinbarung von 2016 noch die Truppen beidseitig entflechtet.
Die Truppenentflechtung sowie die Verabschiedung des Textes der »Steinmeier-Formel«, die vorschreibt, dass die besetzten Gebiete den Sonderstatus nach der Anerkennung der Kommunalwahlen durch die OSZE dauerhaft bekommen, galten als Bedingungen Russlands für ein neues Normandie-Treffen. »Das Treffen ist schon ein Sieg«, sagte denn auch Präsident Selenskyj. »Es gab zuletzt gar keine Möglichkeit, über die Beendigung des Krieges zu reden. Jetzt gibt es wieder einen Dialog.« Trotzdem dürfte selbst Selenskyj, der wohl auch das erste bilaterale Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin absolvieren wird, noch unklar sein, welche Fortschritte nach dem Gipfel in Paris zu verzeichnen sein werden.
Ziemlich sicher darf man von einem weiteren Gefangenenaustausch und zusätzlichen Truppenabzügen auf der Frontlinie ausgehen. Das hat bereits der ukrainische Außenminister Wadym Prystajko angedeutet. Komplizierter ist es mit Kommunalwahlen, dem wichtigsten Teil der friedlichen Reintegration des Donbass’. Selenskyj schließt zwar nicht aus, dass die Wahlen im nächsten Oktober gemeinsam mit den Lokalwahlen im ganzen Land stattfinden könnten. Doch dem Präsidenten zufolge müssten zuvor alle illegalen Truppen abgezogen sein und die Grenze an die Ukraine übergeben werden.
Das wiederum widerspricht dem Minsker Abkommen, das vom jetzigen Oppositionsführer Poroschenko unterschrieben wurde. Doch die Austragung der Wahlen auf dem de facto von den prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet bliebe für die Ukraine extrem ungünstig. Und weil die besetzten Gebiete eine weite Autonomie innerhalb des ukrainischen Staates bekommen sollen, wittert Kiew die Gefahr, eine von Russland gesteuerte Marionettenregion reintegrieren zu müssen. Es ist also ein schwieriger Spagat, den Selenskyj bei seiner ersten großen außenpolitischen Prüfung meistern muss - und dabei wird er auch Proteste in Kiew im Kopf behalten.
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