Youtuber, Influencer, Parlamentarier

Bijan Kaffenberger macht Selfies mit Schülern, scherzt mit Kollegen anderer Parteien. Derweil zuckt sein Finger, biegt sich sein Oberkörper. Der SPD-Landtagsabgeordnete hat Tourette.

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 7 Min.

Sind Sie eher digital oder analog unterwegs?« - »Was ist Ihre Lieblings-App?« - »Haben Sie schon mal Angela Merkel getroffen?« Bijan Kaffenberger, schwarzer Rollkragenpullover, graue Anzughose, dunkle Brille, schiebt seine Hände unter die Oberschenkel und schaukelt seinen Oberkörper vor und zurück.

Seit einem Jahr ist der 30-jährige Ökonom Landtagsabgeordneter der SPD in Hessen und stellvertretender Sprecher für Digitalisierung. Mit 28,3 Prozent der Stimmen gewann er das Direktmandat im Wahlkreis Darmstadt-Dieburg II, das er der CDU abluchste. Die SPD selbst erzielte 19,8 Prozent der Zweitstimmen - wodurch sie wieder in der Opposition landete.

Das Tourette-Syndrom

Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die sich in sogenannten Tics äußert.

Die Tourette-Gesellschaft erklärt die Tics als spontane Bewegungen, Laute oder Wortäußerungen, »die ohne den Willen des Betroffenen zustande kommen und nicht zweckgebunden sind«. Die Bewegungen laufen demzufolge oft wiederholt in immer gleicher Weise ab, sind aber nicht rhythmisch. Erst wenn sowohl vokale als auch motorische Tics gemeinsam auftreten, spricht man vom Tourette-Syndrom.

Der Tourette-Gesellschaft zufolge entwickelt rund ein Prozent der Menschen die Krankheit - in Deutschland wären das ungefähr 800 000 Menschen. Die meisten haben die ersten Tics im Grundschulalter, diese können sich aber auch bereits mit 18 Monaten oder erst im Erwachsenenalter bilden. Jungen sind viermal so oft betroffen wie Mädchen. Bei den meisten Betroffenen entwickeln sich die Symptome nach der Pubertät wieder zurück. Bei anderen bleiben sie ein Leben lang. nd

Jetzt sitzt Kaffenberger in einem Stuhlkreis mit rund 40 Schüler*innen der Gutenbergschule in Darmstadt-Eberstadt und beantwortet Fragen zu seiner Person und zu seiner Arbeit. Er sei eigentlich digital unterwegs, antwortet er, »soweit es denn geht«. »Wenn ich eine Einladung zu einer Weihnachtsfeier per Post bekomme und das Antwortformular nur auf Papier habe, das ich per Hand ausfüllen und zurückfaxen muss, dann kann ich gar nicht digital unterwegs sein.« Über seine Lieblings-App muss der SPD-Politiker kurz nachdenken und unterscheidet dann zwischen der am häufigsten genutzten App (Mail) und der Lieblings-App (»Zeit Online«). Merkel habe er noch nie getroffen. »Aber den Bundespräsidenten. Wisst Ihr, wie er heißt?« Die Kinder schütteln den Kopf. »Frank-Walter Steinmeier«, gibt Kaffenberger selbst die Antwort und erklärt kurz die Aufgaben des Amtsträgers. Nächste Frage. »Wie gehen Sie mit den Reaktionen auf Ihre Zuckungen um?«

Kaffenberger hat das Tourette-Syndrom. Sitzt er in der Gemeindevertretung im hessischen Roßdorf in der Nähe von Darmstadt auf seinem Platz, schlägt er auf der einen Seite seinen Kopf alle paar Minuten haarscharf an der Wand vorbei. Auf der anderen schießt seine rechte Hand mehrmals wenige Zentimeter vor das Gesicht seiner Nachbarin - die darauf gar nicht reagiert. Steht man auf einem Weihnachtsfest der Caritas in Eberstadt mit Punsch vor Kaffenberger, zuckt sein Zeigefinger immer mal in den Becher, stoppt aber immer gerade so über dem Getränk.

Während er spricht, tritt er von einem Bein aufs andere, sein Oberkörper biegt sich vor und zurück, sein Zeigefinger schießt in Rockstar-Manier schräg nach oben. Dabei erzählt er von den verschiedenen Ebenen der Politik, von seiner Oma, erklärt, warum er es wichtig findet, nicht nur im Landtag über die Menschen, sondern auch dort, wo sie wohnen, mit ihnen zu sprechen. Nur manchmal gerät ihm ein verbaler Tic dazwischen: eine Art Kieksen, ein Schnauben, ein Räuspern. Schimpfwörter gehören nicht zu seinem Repertoire. Die bekanntere Ausprägung des Tourette-Syndroms, Koprolalie genannt, hat Kaffenberger nicht.

Am Ende des Besuchs machen die Schüler*innen der Gutenbergschule noch Selfies mit dem Abgeordneten. Sie umringen ihn, einer zückt sein Handy, alle lächeln. Kaffenberger ist Kameras gewohnt: Er hatte lange ein eigenes Youtube-Format, lässt sich auf manchen Terminen von einer Social-Media-Mitarbeiterin begleiten, die Fotos von ihm für seinen Instagram-Account schießt.

Von Lokal- bis Landespolitik

Es ist Freitag, 19 Uhr, die letzte Sitzung der Gemeindevertretung im Jahr 2019. Kaffenberger kommt etwas später, den Tag hat er in Wiesbaden im Landtag verbracht, auch hier die letzte Sitzung des Jahres. Anschließend war er kurz beim Geburtstag seiner Großmutter. Die Gemeindevertretung Roßdorf trifft sich in einer Art Mehrzweckhalle. An der Stirnseite hängt das Wappen der 12 000-Einwohner-Stadt an der Wand. Eine Mondsichel auf blauem Grund, eingefasst von einem Hufeisen und goldenen Sternen.

Auf der Tagesordnung steht der Haushalt für 2020. Kaffenberger meldet sich zu Wort: »Ich bin ja jemand, der Ämterhäufung betreibt«, greift er eine amüsierte Bemerkung des Sitzungsleiters auf. Kaffenberger ist nicht nur Mitglied der Gemeindevertretung und des Landtags, sondern auch des Kreistags. Er wolle etwas zur Landespolitik sagen, erklärt er, doch nach einzelnen Lachern von Kollegen unterbricht ihn der Sitzungsleiter: »Vorsicht an der Bahnsteigkante. Sie fangen an zu schwadronieren.« Kaffenberger ist bekannt dafür, seit Aufnahme seines Amtes in Wiesbaden Lokal- und Landespolitik zu vermischen. Zu oft, finden die Kollegen in Roßdorf. Kaffenberger grinst, setzt kurz zur Gegenrede an, lässt es dann doch sein und geht an seinen Platz zurück.

In der Gemeindevertretung sitzt Kaffenberger bereits seit 2011. Mitglied bei den Jusos wurde er mit 17. Davor war er in der Schülervertretung aktiv. »So bin ich zur Politik gekommen.« Warum er gerade bei der SPD gelandet ist? Roßdorf war schon immer SPD-geprägt. Das hat auch ihn beeinflusst. Später fand er die SPD am überzeugendsten darin, allen Kindern, egal welcher Herkunft, die gleichen Bildungschancen ermöglichen zu wollen.

Kaffenberger selbst ging zwar auf ein katholisches Gymnasium. Eine gute Schule. »Aber ich habe schon gemerkt, dass ich aus einem anderen Umfeld kam.« Die Eltern der Mitschüler waren Architekten, Zahnärztinnen - hatten studiert und verdienten gut. Kaffenberger wuchs bei seinen Großeltern in Roßdorf auf. Seinen Vater lernte er nie kennen, die Mutter starb, als er gerade eingeschult war. Der Opa war Maschinenschlosser bei der Bahn; die Oma ging halbtags putzen. Bei den Hausaufgaben auf dem Gymnasium konnten sie ihm wenig helfen. »Ich wurde deshalb schon früh selbstständig.« Dass er nach dem Abitur auch studieren würde, war ihm klar. Aber »Späßchen« wie die Wahl einer Universität weit weg von zu Hause oder gar ein Auslandssemester konnte er sich nicht leisten. Auch seine politische Arbeit sprach dagegen, die Kommunalpolitik wollte er nicht aufgeben.

Kaffenberger studierte Wirtschaft und International Economics in Frankfurt am Main. Anschließend arbeitete er als Referent für Digitales im SPD-geführten Wirtschaftsministerium in Thüringen. Am Wochenende kehrte er immer zurück nach Hessen, um Politik zu machen. Zwischendurch fuhr er regelmäßig nach Berlin: Hier produzierte er seine Sendung »Tourettikette«. Vornehm wie ein englischer Gentleman sitzt er auf einem Sessel und beantwortet meist nicht ganz ernst gemeinte Zuschauerfragen - auf genauso nicht ganz ernst gemeinte Weise. Manchmal, aber nicht immer, ist auch sein Tourette-Syndrom Thema.

Erste Tics in der Grundschule

Die ersten Tics kamen in der Grundschule. Seine Lehrer ermahnten ihn, sich zusammenzureißen. Da war das Tourette-Syndrom bei ihm noch nicht diagnostiziert.

Es ist nicht sein Lieblingsthema. Schließlich sei er nicht Sprecher für Inklusion, sondern für Digitales, sagt er. Dass Kinder - aber auch Journalisten - ihn genauso zu Tourette befragen wie zu Politik, findet Kaffenberger verständlich. Auch das gehört eben zu ihm. Als er gerade gewählt worden war, gab es in den Zeitungen viele Porträts über ihn. Viele stellten seine Tics in den Vordergrund. Doch heute, ein Jahr im Amt, spricht er lieber über die Themen, die die SPD umtreiben: Grundrente, Hartz IV, bedingungsloses Grundeinkommen, sachgrundlose Befristung, die Bonpflicht.

Wegen der Menschen hier

Auf dem Weihnachtsfest der Caritas am Samstagnachmittag trifft Kaffenberger Politiker anderer Parteien. Einen Kollegen der Linken foppt er mit der Frage, ob er denn das »nd« lese - bevor er ihm eröffnet, dass er mit einer nd-Redakteurin unterwegs ist. Der Kollege ist Abgeordneter im Stadtparlament in Darmstadt und arbeitet bei der Linksfraktion im Landtag. Kaffenberger, mit dem er oft im Zug von Darmstadt nach Wiesbaden fährt, nennt er den »Anti-Schröder«, der Hartz IV überwunden sehen will. Doch eigentlich ist der SPD-Abgeordnete nicht wegen der Politiker hier, sondern wegen der Menschen, die hier leben. Er grüßt zwei junge Männer, mit denen er mal zusammen gekocht hat, kauft einen heißen Apfelsaft beim Stand einer Kita, statt sich kostenlosen Punsch bei der FDP zu holen. Das Viertel, Eberstadt-Süd, gilt als Brennpunkt mit hoher Arbeitslosenquote. Hier hat außerdem die AfD viele Wählerstimmen geholt. Kaffenberger will Präsenz zeigen, Politik darf nichts Abstraktes sein für die Menschen. Sie sollen sehen, wer für sie da ist, er will Bindungen schaffen.

Und es scheint zu wirken. Er werde häufig auf der Straße angesprochen und gelobt. »Ich finde gut, was Sie machen«, höre er häufig. Es gebe schon einen »Hype« um seine Person, sagt Kaffenberger. Das Tourette-Syndrom wird dabei eine Rolle spielen, es ist aber auch das Bild des neuen Politikers, das er verkörpert.

Doch ein Hype will er nicht sein. »Viele Projekte, die ich jetzt mit anstoße, dauern, bis sie umgesetzt werden.« Er will sie an den Start bringen, sie gedeihen sehen. Deshalb, auch wenn die Legislaturperiode noch vier Jahre andauert, kann sich Kaffenberger gut vorstellen, noch einmal anzutreten. »Sonst macht es ja gar keinen Sinn«, sagt er. »Auch ich bin noch dabei, in den Job hineinzuwachsen.«

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