Der Verkehrswahnsinn geht weiter

Bei einer Mahnwache für den ersten Verkehrstoten 2020 kritisieren Aktivisten Verkehrspolitik und auch die Sofortmaßnahmen des Senats

  • Jonas Wagner
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf einen Schlag wird es am Freitagabend um 17.50 Uhr ganz ruhig in der Kreuzberger Adalbertstraße. Nur das Rauschen des Verkehrs in den Nachbarstraßen und etwas Geflüster ist noch zu hören. Der Grund für die Stille: Mit einer Schweigeminute gedenken etwa 45 Menschen des 81-jährigen Passanten, der hier am 2. Januar bei einem Verkehrsunfall verletzt wurde und vergangene Woche verstorben war.

»Heute versammeln wir uns hier in Trauer«, sagt Dirk von Schneidemesser von der Organisation Changing Cities Berlin. Die Trauer habe einen Grund - die tödliche Verletzung des Senioren - und eine Ursache: die »jahrzehntelang verfehlte Verkehrspolitik«, bei der Menschen hintenangestellt würden, so von Schneidemesser weiter.

Bereits am Donnerstag kamen rund 300 Menschen zu einer Mahnwache am Kottbusser Tor, wo eine 68-jährige Radfahrerin am vergangenen Mittwoch bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Unter den Teilnehmer*innen, die sich an diesem regnerischen Freitagabend auf der Adalbertstraße versammelt haben, ist auch Ralf Jacob. Die Unfallstelle befinde sich genau auf seinem täglichen Arbeitsweg, berichtet der 40-Jährige. »Ich kriege natürlich mit, wie aggressiv hier die Verkehrssituation ist.« Auch eine Aktivistin vom Fachverband Fußverkehr (FUSS) geht in ihrer Rede auf die Gefahren des Autoverkehrs ein: »Meinem Kind habe ich beigebracht, dass es niemals einem Autofahrenden trauen darf.« Neben dem Mitgefühl und dem Beileid, das sie den Hinterbliebenen des Unfallopfers ausspricht, betont die Rednerin auch, man müsse Verkehrssicherheit aktiv einfordern. »Ich sehe zurzeit gar keine Strategie seitens der Politik.«

Die Verkehrsverwaltung hat am vergangenen Donnerstag einige Sofortmaßnahmen für Kreuzberg angekündigt. Neben dem tödlichen Unfall in der Adalbertstraße war auch der Tod der Radfahrerin Anlass dafür - sie wurde von einem abbiegenden Lkw überrollt. Nach einer Vorort-Begehung durch die Unfallkommission soll am Kottbusser Tor nun über eine veränderte Ampelschaltung nachgedacht und die »bauliche Gestaltung des Radwegs« geprüft werden, wie die Verkehrsverwaltung mitteilte. Auf der Adalbertstraße will der Bezirk Tempo 30 anordnen.

»Ich glaube, die Maßnahmen sind reine Kosmetik und werden strukturell nichts verändern«, befindet Jacob. Farbe und Blinklichter wirkten nicht unfallvereitelnd. »Alles, was nicht zu einer separaten Infrastruktur führt, ist ungeeignet.« Ähnlich sieht das Ragnhild Sørensen von Changing Cities. Sie räumt zwar ein: »Es sind sicher richtige Maßnahmen.« Aber die Prioritäten seien falsch. Statt auf möglichst reibungslosen Autoverkehr zu setzen, müsse man die Sicherheit der schwächeren Verkehrsteilnehmer*innen wie Passant*innen und Radfahrer*innen in den Vordergrund stellen. Sørensen kann sich als geeignete Maßnahmen in der Adalbertstraße Tempo 10, breitere Bürgersteige oder Bodenwellen vorstellen. Letztere könnten auch am Kottbusser Tor die Verkehrssicherheit erhöhen, so die Aktivistin, ebenso wie eine andere Ampelschaltung und die generelle Umgestaltung der Kreuzung. Zwar gebe es im Senat durchaus Politiker*innen, die sich für rasche Verbesserungen einsetzten - doch das »Zuständigkeits-Pingpong bremst unglaublich viel aus«, so Sørensen.

Als die Redebeiträge vorbei sind, befestigen Demonstrant*innen eine weiße Figur an einem Laternenpfahl. Einer der Veranstalter*innen löst die Mahnwache auf und bittet darum, die Straße freizugeben. »Damit der Wahnsinn weitergeht«, kommentiert jemand. Kurz darauf rollen wieder Autos durch die belebte Kreuzberger Straße.

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