Deutschland braucht eine linke Volkspartei

Ein überzeugendes und realistisches Konzept für einen starken Sozialstaat wäre der Mittelpunkt eines populären linken Programms

  • Alexander King
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Wahlergebnisse des vergangenen Jahres bilden die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft ab. Zwischen Stadt und Land, Innenstadt und Vorstadt, Gewinnern und Verlierern, West und Ost, manche würden sagen: zwischen Gut und Böse oder einfach: zwischen grün und (AfD-)blau. Es ist eine ähnliche Polarisierung, wie wir sie auch in anderen europäischen Ländern finden: in Frankreich zwischen Macron und Le Pen, in Polen zwischen PiS und Bürgerplattform, zuletzt in Großbritannien zwischen Leavers und Remainers.

In Deutschland erobern die Grünen die Metropolen, die Innenstädte, die Jungen, die Gebildeten, die Bessergestellten, den Westen. Die AfD sahnt im Osten und dort vor allem in ländlichen Regionen ab und unter denjenigen, die sich vor Abstieg sorgen oder ihn schon hinter sich haben.

Die SPD kommt auch mit neuer Führung und linker Rhetorik nicht auf die Beine, die LINKE ist auf Bundesebene kaum noch wahrnehmbar. SPD und LINKE kommen in der Sonntagsfrage zusammen auf nicht viel mehr als 20 Prozent und sind existenziell bedroht, wenn sie keine Antwort auf die Frage nach ihrer Rolle in dieser gesellschaftlichen Polarisierung finden.

Warum kommt ein Handwerker, eine Facharbeiterin, ein Rentner kaum auf die Idee, die LINKE zu wählen? Warum ziehen auch immer weniger Erwerbslose und prekär Beschäftigte das in Erwägung? Wie finden die LINKE und ihre Zielgruppe wieder zueinander? Nicht, indem wir abstrakt die »Systemfrage« in den Raum stellen, vollmundig »Umverteilung« oder gar »Verstaatlichung« ankündigen. Wenn es keine realen Anknüpfungspunkte im Alltag der Menschen gibt, wirken solche Utopien weltfremd und abgehoben. Und auch nicht, indem wir in hektischer Abfolge ungedeckte Versprechen raushauen: BahnCard 50 für alle, Erste Klasse mal für alle, mal für niemanden, kostenloses Dies, kostenloses Das... Die Wähler sind nicht in der Stimmung für effektheischende Vorschläge. Sie wissen, dass sie immer nur zur Hälfte durchdacht sind.

Wir brauchen zwar sowohl einen utopischen Horizont als auch pfiffige Einzelmaßnahmen. Um das eine mit dem anderen sinnvoll zu verbinden, brauchen wir aber vor allem Konzepte mittlerer Reichweite, die den Ausblick der Wähler auf die Zukunft ihrer Familien ansprechen: Werden wir sicher und in Frieden leben? Wird die Rente reichen? Werden die Kinder eine gute Ausbildung erhalten? Welche beruflichen Perspektiven eröffnen sich für sie in einer ökologisch angepassten und digital weiterentwickelten Wirtschaft?

Linke Volkspartei

Als Partei, die mehr oder weniger exotische Nischenthemen zu einem Programm addiert, kann die LINKE möglicherweise stabil über 5 Prozent bleiben: eine kleine Oppositionspartei, vielleicht auch mal ein kleiner Juniorpartner in einer Regierungskoalition, die sie aber nicht aus eigener Kraft herbeiführen und auch nicht politisch gestalten wird. Das wäre dann einerseits besser als nichts, andererseits aber auch die endgültige Preisgabe der Oppositionsrolle an die AfD. Erst recht dann, wenn die SPD weiter taumelt und die Grünen die bestimmende Kraft in einer neuen Mitte-Links-Koalition sind.

Deutschland braucht etwas anderes: Eine starke linke Volkspartei, die sich nicht den Grünen unterordnet, sondern den Kampf um die Vormacht im Mitte-Links-Lager aufnimmt und gleichzeitig der AfD die Interessensvertretung für die kleinen Leute erfolgreich streitig macht. Die LINKE sollte diese linke Volkspartei werden oder ihr den Weg bereiten.

Eine linke Volkspartei muss sich in der Mitte der Gesellschaft platzieren, nicht an ihrem Rand. Was nicht gleichbedeutend ist mit der Mitte des politischen Spektrums. Aus Umfragen wissen wir, dass in der Mitte der Gesellschaft viele Einstellungen gut verankert sind, an denen linke Politik anknüpfen kann: Kritik an der Globalisierung, Privatisierung, sozialer Ungerechtigkeit und Ellbogengesellschaft, Angst vor Klimawandel und Krieg.

Eine linke Volkspartei muss den Anspruch haben, dass sie von den Menschen gewählt wird, die unseren Wohlstand schaffen und absichern, indem sie arbeiten gehen, Familien gründen, Kinder großziehen. Diese Menschen bewegen sich am unmittelbarsten in den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft, aus denen heraus wir unsere Politik im Interesse der Lohnabhängigen entwickeln müssen. Die LINKE hatte sie zuletzt jedoch kaum noch erreicht, wie an der abnehmenden Zustimmung in der entsprechenden Alterskohorte abgelesen werden kann.

Linke und populäre Politik

Ein überzeugendes und realistisches Konzept für einen starken Sozialstaat ist der Mittelpunkt eines populären linken Programms. Aber Vorsicht: Menschen wollen nicht nur Absicherung, sondern auch Respekt für ihre Leistungen. Das Sozialstaatsprogramm einer linken Volkspartei darf nicht nur mit der Gießkanne Wohltaten verteilen, sondern muss vor allem die Ansprüche stärken, die sich die Menschen im Laufe ihres Lebens erarbeiten. In diesem Sinne muss sich Leistung wieder lohnen.

Eine linke Volkspartei muss sich von staatsverachtenden Tendenzen der postmodernen Linken abgrenzen. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Staat. Eine linke Volkspartei sollte einen umfangreichen Investitionsfonds (eine Art Staatsfonds) fordern, um Investitionen für die kommenden Jahrzehnte abzusichern, Stichwort Green New Deal. Die dafür erforderliche Extra-Besteuerung von Top-Einkommen und großen Vermögen trifft in der Bevölkerung ebenso auf wachsende Zustimmung wie der Kampf gegen Schuldenbremse und Schwarze Null.

Eine linke Volkspartei muss Motor der gesellschaftlichen Modernisierung sein und zugleich den kulturellen Prägungen und Werten der Menschen, die sie erreichen will, Respekt zollen. Solange der Erwerb von Sprachkenntnissen und interkulturellen Kompetenzen eine Frage der sozialen Herkunft ist, verbietet sich arrogantes Naserümpfen über angebliche Provinzialität. Solange in einer auseinanderfallenden Gesellschaft der Rückgriff auf die Alltagskultur die einzige verbliebene Sicherheit darstellt, wird deren zur Schau getragene Ablehnung eher Abwehrreaktionen hervorrufen.

Die Forderung nach offenen Grenzen für alle Menschen, von den Parteivorsitzenden in einem jahrelangen Machtkampf gegen die Fraktionsspitze instrumentalisiert, wurde seit ihrem Pyrrhussieg zwar nicht mehr öffentlich stark gemacht. Aber bei den Wählern ist dennoch hängengeblieben, die LINKE hätte ihre populärste Politikerin für ein weltfremdes Dogma geopfert. Vor dem Hintergrund der Debatte um »Fachkräftemangel« in Deutschland sollte die LINKE endlich einen realistischen Standpunkt einnehmen, das heißt: die konkreten Interessen, die hier im Spiel sind, benennen und Vorschläge für eine regulierte Einwanderung unterbreiten, von der Einheimische, Zuwanderer und Herkunftsgesellschaften etwas haben.

Scheuer-Maut und von-der-Leyen-Handy haben zum Jahresende noch mal ein trauriges Bild von unserer Demokratie gezeichnet. Viele Menschen wenden sich ab, verlieren jedes Vertrauen in die politische Klasse. Eine linke Volkspartei sollte sich die Erneuerung unserer Demokratie auf die Fahnen schreiben. Auf keinen Fall sollte sie den Eindruck erwecken, dass sie der Bevölkerung misstraut, im Gegenteil: Jetzt wäre die Zeit für mehr direktdemokratische Elemente – auch im Wahlrecht, das hieße: die handelnden Personen sichtbarer und damit verantwortlich machen, weniger Hinterzimmer-Deals, mehr direkte Demokratie, auch innerhalb der Parteien.

Viele Deutsche wünschen sich eine gute Nachbarschaft mit Russland. Auch wenn sie dem russischen Präsidenten nicht unbedingt vertrauen: dem US-Präsidenten vertrauen sie noch viel weniger. Deutschland und Europa müssen ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen. In der »Nord Stream 2«-Frage hat die LINKE alles richtig gemacht und sich gegen die US-Sanktionen verwahrt. Eine linke Volkspartei sollte diesen Kurs beibehalten und die Gefolgschaft in Kriegseinsätzen verweigern. Die Bundeswehr soll reine Verteidigungsarmee sein, alle Auslandseinsätze müssen beendet werden.

Personalisierung

Wo die LINKE im vergangenen Jahr mit starken und populären Spitzenkandidaten angetreten ist und diese in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gerückt hat, war sie erfolgreich (Bremen, Thüringen), wo sie dies unterlassen hat, waren die Ergebnisse desaströs (Brandenburg, Sachsen, EU-Wahl).

Studien bestätigen, dass die Bedeutung von Glaubwürdigkeit, Authentizität und Sympathie für die Beurteilung politischer Angebote durch die Wähler zunimmt. Das gilt vor allem für die Wähler, die mit Partei- und Wahlprogrammen nicht (mehr) erreicht werden – weil sie keine Zeit haben, sie zu studieren, weil sie nicht mehr an das glauben, was da geschrieben steht, weil sie sich von der Sprache, die darin gepflegt wird, überfordert fühlen.

Die Linke hat immer wieder herausragende Persönlichkeiten hervorgebracht, die es ihr ermöglicht haben, mit den Massen zu kommunizieren. Ohne Gregor Gysi hätte die PDS die 90er Jahre nicht überlebt, ohne Oskar Lafontaine wären die Gründung und der Erfolg der LINKEN ab 2005 undenkbar gewesen. Die Sozialdemokraten erinnern sich in diesen Tagen mit wiedererwachter Emphase an Willy Brandt. Die populärste Linke unserer Tage ist Sahra Wagenknecht. Die LINKE muss Talente fördern und in der Kommunikation mit den Wählern einsetzen, statt zu versuchen, sie auf Mittelmaß zurechtzustutzen.

Für die erfolgreiche Etablierung einer linken Volkspartei stehen viele Zutaten bereit: Einstellungen, an denen linke Politik anknüpfen kann, sind breit verankert. Viele Menschen warten sehnsüchtig auf ein entsprechendes politisches Angebot, wie Umfragen zeigen. Die LINKE muss diese Assets nutzen, will sie nicht Nischenpartei und gelegentlicher Mehrheitsbeschaffer für eine grüne Scheinalternative werden – und damit auch mitverantwortlich für den weiteren Aufstieg der AfD.

Alexander King ist Bezirksvorsitzender der LINKEN in Berlin Tempelhof-Schöneberg

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