Erster Schritt ins Dritte Reich

Vor 90 Jahren trat die NSDAP in die Thüringer Landesregierung ein.

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 7 Min.
Das Tor zu Birkenau, wo sich die 
Gaskammern 
befanden.
Das Tor zu Birkenau, wo sich die 
Gaskammern 
befanden.

Als im Herbst 1923 Kommunisten und Sozialdemokraten in Sachsen wie Thüringen gemeinsame Regierungen gebildet hatten, schickte die Reichsregierung die Armee. Unter dem Vorwand, die Aufstellung paramilitärischer »Proletarischer Hundertschaften« zu unterbinden, enthob Reichspräsident Friedrich Ebert zunächst die sächsische Regierung des Amtes. In Thüringen erzwang diese »Reichsexekution« den Rücktritt der kommunistischen Minister der demokratisch zustande gekommenen und verfassungsmäßig legitimierten Regierung.

Der Autor
Der Faschismusforscher Professor Manfred Weißbecker, geboren 1936 in Chemnitz, war bis 1992 Lehrstuhlinhaber an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Gemeinsam mit Kurt Pätzold, verfasste er 1981 die erste Geschichte der NSDAP im deutschsprachigen Raum, »Hakenkreuz und Totenkopf. Die Partei des Verbrechens«, die international als Standardwerk gilt. Von ihm erschienen zudem unter anderem eine Hitler- und eine Heß-Biografie.

Seitdem erstarkte in Thüringen die Partei der Nazis, die das Land - neben Bayern, wo sie entstanden war - bald als Hochburg betrachten durfte. Dieser Eingriff und die Landtagswahlen vom 10. Februar 1924, die der Thüringer Ordnungsbund (TOB) gewonnen hatte, ein Zusammenschluss mehrerer konservativer und rechtsliberaler Parteien, bewirkten einen drastischen Kurswechsel in der Landespolitik: Konservative und antirepublikanische Kräfte setzten einen massiven Abbau jener demokratischen Reformen und Institutionen durch, die in den frühen 20er Jahren eingerichtet worden waren. Vieles von dem, was zuvor - etwa im Bildungsbereich und in der Sozialpolitik - von sozialdemokratisch geführten Regierungen umgesetzt worden war, wurde abgeschwächt oder zurückgenommen.

Begleitet wurde diese Politik von Diskreditierungskampagnen gegen sozialdemokratische und sozialistische Politik, von einem Heraufbeschwören nationalistischer Feindbilder und Ängste. Während die nun Regierenden die wachsende NSDAP zum »Phantom« herunterspielten, wurde dem »roten Thüringen« der frühen 20er Jahre nachgesagt, nur Rechtsunsicherheit und Störung der öffentlichen Ordnung bewirkt zu haben. Zerrüttet seien die Finanzen, das Wirtschaftsleben, Beamtentum und Schulen! Die konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) brachte diese »Bilanz« auf den Punkt: »Der Marxismus ist nur fähig zu zerstören, unfähig zu staatserhaltender Arbeit.«

Wie weit der Kampf dieser Rechtsbürgerlichen gegen den »Marxismus« reichte, zeigte nicht zuletzt ihre Kulturpolitik: So waren es konservative Kreise, die das der Moderne verpflichtete Bauhaus aus Weimar vertrieben. Auch antisemitische Aktionen trugen sie mit, wie etwa die Affäre Walter Loeb zeigte: Der Präsident der Thüringischen Staatsbank wurde entlassen, weil mit den Völkischen auch zahlreiche Konservative der Meinung waren, man könne keinen Juden an der Spitze eines solchen Instituts dulden. In diesem Skandal zeigten sich bereits alle faschistischen Argumentations- und Handlungsmuster: unhaltbare Korruptionsvorwürfe, erpresserische Demagogie, gezielte Indiskretionen, Drohungen und Ähnliches.

Die politische Landschaft Thüringens polarisierte sich dabei zusehends. Auf der einen Seite standen die beiden Arbeiterparteien, die in den frühen 20ern zwar vielfach eine gemeinsame Sprache gefunden hatten, nun aber kaum noch zu gemeinsamen Aktionen fähig waren. Das andere Lager bildeten Parteien der sogenannten Mitte und rechtsorientierte Organisationen. Letztere schreckten nicht davor zurück, die völkisch-rassistischen und nazistischen Kräfte für ihre Machtpolitik zu nutzen, zumal sich die NSDAP hier - anders als etwa in Sachsen - auf das völkisch-antisemitische und antisozialistische Ressentiment erheblicher Teile des Bürgertums und der Agrarverbände stützen konnte.

So alt wie ich
Die Fotografin Conny Höflich über ein fast unmögliches Bild

Was die seit 1928 reichsweit von Alfred Hugenberg geführte DNVP erst im Kampf gegen die Annahme des Young-Planes sowie im Ringen um den Sturz des Brüning-Kabinetts praktizierte und was im Oktober 1931 als »Harzburger Front« in die Geschichte einging, war in Thüringen bereits seit Mitte der 20er erprobt worden. So erfolgte 1924 die Bildung der neuen Landesregierung mit Unterstützung des »Völkisch-Sozialen Blocks«, der in Thüringen für die zu dieser Zeit nach dem Hitler-Putsch verbotene NSDAP agierte. Der TOB machte diesem erhebliche Zugeständnisse, um eigene weitgehend antirepublikanische Konzepte durchsetzen und uneingeschränkter als in den ersten Nachkriegsjahren herrschen zu können. Anfang März 1924 hob man das Verbot der NSDAP auf, ebenso das Redeverbot für Hitler.

Ein solcher Kurs kam den Nazis weit entgegen. In keinem anderen Land des Reiches wäre es möglich gewesen, nach der Wiedergründung der Partei ihren ersten Parteitag durchzuführen. In dessen Vorfeld, am 10. Juni 1926, hatte die Fraktion der NSDAP Gesetzentwürfe in den Landtag eingebracht, die den Ausschluss von Juden aus öffentlichen Ämtern, ihre Nichtzulassung als Ärzte, Notare, Vieh- und Getreidehändler, Studenten und Schüler sowie die »Ausweisung von Ostjuden aus dem Freistaat Thüringen und die Beschlagnahme ihres Vermögens« forderten. Als Jude galt jeder, der »in der großväterlichen Geschlechterfolge (Generation) noch Blutsverwandte hatte, die sich zum mosaischen Glauben bekannten, egal ob sie heute getauft sind oder nicht«. Zwar fanden die Anträge keine Zustimmung. Doch gab es keine Auseinandersetzung mit diesen ungeheuerlichen Vorstößen. Man war befasst mit dem Kampf gegen die Linke.

So entstand in Thüringen auch keine Stabilität. Politische Krisen häuften sich, allein zwischen April 1927 und Oktober 1929 wechselte dreimal die Regierung. Schließlich markierte die Landtagswahl vom 8. Dezember 1929 eine Zäsur: Die NSDAP konnte ihren Stimmenanteil von 4,5 auf 11,3 Prozent erhöhen, während die bürgerlichen Parteien massive Verluste erlitten. So entstand ein Patt von 23 bürgerlichen gegen 24 linke Landtagsmandate. Und die Konservativen hatten keine Skrupel, ihre Regierungspositionen mit Hilfe der Rechtsradikalen zu gewinnen. Die sechs Abgeordneten der Nazis wurden zum Zünglein an der Waage.

So kam es am 23. Januar 1930 erstmals in Deutschland zu einer Landesregierung, an der die Nazi-Partei beteiligt war. Sich ihrer »Unentbehrlichkeit« für die Parteien der sogenannten Mitte und deren strikten Kurs gegen links bewusst, stellten sie weitreichende Forderungen, die das tatsächliche Kräfteverhältnis nicht abbildeten. Schon am 11. Januar hatte Hitler in einer Rede über »Politik und Wirtschaft« vor Vertretern thüringischer Wirtschafts- und Industrieverbände Eindruck gemacht. Nun drohte er offen: Falls sein Vertreter Wilhelm Frick nicht Minister werde, gebe es Neuwahlen.

Befangen in mehr oder minder grundsätzlicher Ablehnung der Weimarer Republik und bemüht, deren Träger als Verantwortliche der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung hinzustellen, wollten die rechten Parteien der »Mitte« keine andere Möglichkeit sehen als das Bündnis mit der NSDAP. Deren Ideen und Konzepte lagen ihnen näher als jede Aktion zur Verteidigung der Weimarer Demokratie und zur Abwehr rassistischer Politik.

Frick - als Beteiligter am Nazi-Putsch im November 1923 ein Hochverräter und von Hitler als »fanatischer Nationalsozialist« gepriesen - übernahm den entscheidenden Posten des Innen- und Volksbildungsministers. Willy Marschler wurde Staatsrat. Fritz Sauckel, Chef der thüringischen NSDAP, blieb einstweilen noch außen vor. Die Nazis nutzten die ihnen gebotenen Chancen. Ein »Modell der Machtergreifung« war entstanden - und Thüringen wurde ein Experimentierfeld diktatorischer Regierungspraxis. Das Land erlebte einen Vorgeschmack auf faschistische Machtausübung, bei der auch ein »Ermächtigungsgesetz« - angenommen am 29. März 1930 - nicht fehlte.

Während seiner Amtszeit verfolgte Wilhelm Frick, wo und wann es ihm möglich war, das Ziel, die Landespolizei mit Parteigängern zu durchsetzen. Ebenso nahm er Einfluss auf den Bildungsbereich, wovon vor allem die Einführung von »Schulgebeten« mit faschistischem Inhalt kündete. Erste Vorstellungen von Machtgebrauch und -missbrauch des kommenden neuen Reiches boten auch der Erlass »Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum«, die Zensurmaßnahmen gegen das Buch und den Film »Im Westen nichts Neues« des Pazifisten Erich Maria Remarque, die Entfernung »dekadenter« Gemälde aus Weimarer Museen oder die Errichtung eines Lehrstuhls für Sozialanthropologie für den »Rasseforscher« Hans F. K. Günther an der Jenaer Universität. Zu einer Posse geriet allerdings Fricks Versuch, Hitler im Sommer 1930 zum Gendarmeriewachtmeister von Hildburghausen zu ernennen und den Staatenlosen so einzubürgern.

Frick selbst war nicht lange im Amt. Am 1. April 1931 sah sich die an der Regierung beteiligte Deutsche Volkspartei (DVP) veranlasst, einen von KPD und SPD gestellten Misstrauensantrag zu unterstützen. Doch wurde hierbei offenbar, wes Geistes Kind der mittlerweile im bürgerlichen Lager führende Thüringer Landbund (TLB) war: Sein Vorsitzender stellte fest, die Nazis hätten mit ihrem Kampf gegen die jüdische Bankwelt nur bewirkt, dass das Geld ins Ausland abgeflossen sei, und wehklagte zugleich: »Die Juden haben wir aber hierbehalten.« Von Distanz zum rassistischen Antisemitismus der NSDAP war schon da keine Spur. Und nur ein gutes Jahr später, im Juli 1932, bildete der Landbund wieder eine Koalition mit der NSDAP - diesmal freilich unter Fritz Sauckel.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!