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Mythos vom »Messermigranten«
Angst geht um in Deutschland, doch Schuld sind nicht Migranten, sondern Medien
»Messergewalt immer schlimmer!«. So stand es jetzt mal wieder auf der Titelseite der »Bild«. Zeitgleich lieferte Bild.de eine Sondersendung zum Thema: In Rottweil hatte ein Mann eine Jobcenter-Mitarbeiterin mit einem Messer schwer verletzt. Genaueres wisse man zwar nicht, erklärte der zugeschaltete BILD-Reporter. Doch seien unter den Tätern »relativ viele Nicht-Deutsche (…). Es ist offenbar auch ein kulturelles Problem.«
Doch ganz so einfach wie BILD und andere Medien vermitteln, ist das Phänomen Messergewalt nicht. Schon die Frage, ob Messerangriffe zunehmen, ist schwer zu beantworten. Denn eine bundesweite gesonderte Erfassung von Messerdelikten gibt es bisher nicht. Eine Ausnahme bildet NRW. Dessen Innenministerium gab vergangene Woche bekannt, im Jahr 2019 6827 Straftaten mit Messern gezählt zu haben. Die Erfassung wurde allerdings erst im vergangenen Jahr eingeführt. Hinweise, dass Straftaten mit Messern zugenommen haben, gibt es dennoch. In Ermangelung offizieller Zahlen haben Reporter des ARD-Magazin »Kontraste« Anfang vergangenen Jahrs bei Sicherheitsbehörden der Länder nachgefragt: Aus neun Bundesländern bekamen sie die Antwort: Ja, Messerdelikte nahmen zwischen 2014 und 2017 zu. Zwischen 0,5 Prozent in Schleswig Holstein bis zu 55 Prozent in Brandenburg.
Ob es sich bei den Tatverdächtigen häufiger um Migranten handelt, geht aus den Angaben allerdings nicht hervor. Zahlen gibt es lediglich aus Niedersachsen. Im Auftrag des Familienministeriums untersuchten dort im Jahr 2018 der Gewaltforscher Dirk Baier und der Kriminologe Christian Pfeiffer die Gewaltentwicklung bei Flüchtlingen und Jugendlichen. Sie stellten fest: Gefährliche Körperverletzungen haben in den letzten Jahren zugenommen. Verantwortlich dafür seien vor allem nicht-deutsche Tatverdächtige.
Dass Migranten Gewalttaten begehen, weil sie Migranten sind, heißt das allerdings nicht. Nicht nur ihre Migrationserfahrung, auch Alter und Geschlecht unterscheidet die Bevölkerungsgruppe statistisch vom deutschen Durchschnitt. »In jedem Land der Welt sind die männlichen 14- bis unter 30-jährigen bei Gewalt- und Sexualdelikten deutlich überrepräsentiert«, schreiben Pfeiffer und Baier. Eine weitere Erklärung liefert eine Studie des Kriminalwissenschaftlers Christian Walburg. Ihm fiel auf: Während Männer aus Marokko oder Algerien überdurchschnittlich häufig Gewalttaten begehen, gibt es bei Syrern oder Irakern keine Auffälligkeit. Walburgs Erklärung: Flüchtlinge aus Nordafrika werden deshalb häufiger kriminell, weil ihnen seltener Asyl gewährt wird. Flüchtlinge mit »günstiger Bleibeperspektive, Zugang zu Integrationskursen, zu Bildungsangeboten und Aussicht auf Zugang zum Arbeitsmarkt« begehen sogar weniger Straftaten als der deutsche Durchschnitt. Es ist also nicht die Herkunft, sondern die Ankunft, die über den Hang zur Kriminalität entscheidet.
Auch in einer weiteren Sache widersprechen kriminologische Studien der öffentlichen Wahrnehmung: Trotz möglicher Zunahme sind Messerdelikte immer noch ein absolutes Minderheitenphänomen. Nimmt man die Zahlen aus Niedersachsen als Referenz entfallen von den jährlich 189 000 Gewaltverbrechen in Deutschland nicht einmal drei in diese Kategorie. Was die Schlagzeilen von ausufernder Messergewalt außerdem verschleiern: Die Zahl der Gewaltdelikte insgesamt geht in Deutschland zurück. Fälle von Mord und Totschlag unter Jugendlichen haben sich seit Mitte der 2000er sogar fast halbiert. Das Risiko in Deutschland Opfer einer Straftat zu werden, ist so niedrig wie seit 1991 nicht mehr.
Dass die gefühlte Sicherheit dennoch abnimmt, liegt nicht an Migranten, sondern vor allem an Medien. Das ist ein Ergebnis einer 2017 vorgestellten Studien des Medienwissenschaftlers Thomas Hestermann. Seiner Untersuchung zufolge hat sich die Berichterstattung über Gewalt nichtdeutscher Tatverdächtiger seit 2014 vervierfacht, obwohl sich deren Anteil an der Kriminalitätsstatistik nur um ein Drittel erhöhte. In einer weiteren im Dezember letzten Jahres vorgestellten Studie zeigte Hestermann außerdem: Ausländische Tatverdächtige werden in Zeitungsberichten 32 Mal so häufig erwähnt, wie es ihrem realen Anteil an der Kriminalitätsstatistik entspricht. Besonders auffällig sei dieses Phänomen bei Messerangriffen. Während bei ausländischen Tätern fast ausnahmslos die Herkunft genannt wird, spielte die Nationalität von Deutschen in kaum einem Beitrag eine Rolle.
Das passende Anschauungsbeispiel für diese Erkenntnis lieferte übrigens die »Bild« mit ihrer Sondersendung zur Messergewalt. Nachdem man dort ausgiebig über kulturelle Hintergründe spekuliert hatte, stellte sich heraus: Beim Messerstecher von Rottweil handelte es sich um einen 58-jährigen Deutschen ohne Migrationshintergrund. Da war die Live-Sendung allerdings schon vorbei.
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