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Liebe singen und Panzerwagen meinen
Zum Tod des nicaraguanischen Dichters und Predigers Ernesto Cardenal
Wer Gott aus der Kunst nähme, wäre unzweifelhaft deren Vernichter. Wer sagt, es gebe Gott nicht, hat ihn schon wieder geschaffen. Alles, was über Gott gesagt wird, ist gleich richtig und gleich falsch. Keiner vermag ihm zu entsprechen. Die Lyrik, so heißt es, sei eine Zwillingsschwester des Gottglaubens, sie ist, wie Ernesto Cardenal schrieb: »etwas, das im Himmel wohnt«. Etwas, das unserem eigenen Handeln genauso viel Wert gibt, wie es zugleich verhindert, dass dieses Wertbewusstsein in eine Anmaßung gegen andere umschlägt.
Es hat Literaten als Diplomaten gegeben (Friedrich Wolf, Louis Fürnberg, Pablo Neruda, Tschingis Aitmatow), Künstler als Kulturminister (Johannes R. Becher, Melina Mercouri). Solche Feldversuche hinterlassen zumeist gespaltene Persönlichkeiten, denn Poesie ist Differenzierung, Politik aber ein Ausbund an einseitiger Auslegung. Cardenal war von 1979 bis 1987 erster Kulturminister im freien Nicaragua. Ein Mystiker, aber im revolutionären Auftrag - beides nicht zu trennen von der entscheidenden Kraft: der sprachlichen Präzision eines Dichters. Eine Dreifaltigkeit von Weltwirkung.
Im Grunde war Cardenals ministeriales Werk die Fortsetzung seiner Christenpraxis auf Mancarron, einer Bauern-Enklave in der Solentiname-Inselgruppe im Großen See von Nicaragua. Diese Gemeinde war keine Insel der Seligen, aber in Sozialethos und Lebenskraft doch Bewahrheitung dessen, was jede Insel vor allem sein kann: eine Kritik des Festlandes. Milchproduktion und Meditation. Cardenal schreibt den Bauern ein »Evangelium«, er ist ein leise lohender Prediger gegen den Tyrannen Somoza. Weisheitslektionen - auch für den Waffengang. Sein Wort, das Gott meint, wandelt sich in den Seelen junger Zuhörer in Eide, für die Revolution zu sterben. Verheißungslehre als Fanal. Befreiungstheologie. Liebe singen und Panzerwagen meinen. Andacht für den Aufruhr. »Weshalb sollte ich mich vor jenen fürchten, die ihr Vertrauen in Banken setzen.« Die Psalmen der Bibel als Gebotstexte für soziale Erhebung. »Meine Zuflucht bist du/ am Tag der Bombe.« Anruf eines Jesus Christus, der bei den Armen wacht, weint, wartet, wandert. Das eigene Leben als Weihe. Selbstermächtigung durch Dienen. »Der Himmel Solentinames in diesen Nächten war ganz klar,/ und ich legte mich schlafen, den Kopf voller Sterne/ und mit dem Gedanken, dass ich der Sohn des Schöpfers sei.«
Später werden politische Gegner nicht davor haltmachen, die suggestive Wirkung dieses Priesters Manipulation zu nennen, seine Verse geringzureden; das Schlimmste: sein wiederholtes Exil unter Somoza, nachdem dessen Truppen Solentiname verwüstet hatten, als Flucht verächtlich zu machen. Freilich erfuhr Cardenal auf seiner Insel auch den Fluch jeder Kollektivierungsidee: Sie lehrt Gemeinsinn, indem sie individuelles Rechtsempfinden und persönliche Freiheit herausfordert; somit ist jede Kommune immer auch - gegen ihre Intention - eine Schule der Krise, ein Ort des Mutes, sich der Einvernahme durch Aktivismus zu entziehen. Zu sich zu kommen, das sei Kommunismus? Er hebt die Dialektik nicht auf: zu sich zu kommen, es bedeutet Gemeinsinn, darin ein antikollektiver Sprengstoff lauert.
Cardenal, geboren 1925 in Granada, hat diese Erfahrung offenen Auges verarbeitet. Genau besehen, endete er in seinen Anfängen: in eremitischer Existenz. Die ihm keine Abkehr von Einmischung bedeutete. Jene Einsamkeit, in die er von beiden Glaubensinstitutionen, von der Kirche wie später von den Genossen, hineingedrängt wurde, hat der einstige Mönch nicht als Urteil empfunden, sondern als Bestätigung: Was du bist, wirst du auf Strecken des Irrtums, betastet vom Zwielicht, das schneller dämmert, als jede Morgenröte leuchten kann. 1994 hatte Cardenal die Partei der Sandinisten verlassen, angewidert vom Charakterverfall des einstigen Gefährten Daniel Ortega, der zum autoritären Antidemokraten geworden war. Die sandinistische Revolution: wieder ein Umsturz mehr, der nicht nur seine Kinder, sondern auch sich selber fraß.
Der Befreiungsbewegung FSLN war der Priester - nach frühem Exil in Mexiko und Kentucky und späterem Aufenthalt in Costa Rica - Mitte der 70er Jahre beigetreten. Enttäuschung über das sogenannte revolutionäre Subjekt? Nein, mag sich jede Masse der Belehrbarkeit verweigern - im einzelnen Menschen kehrt alle Hoffnung immer wieder zurück. Davon hat Cardenal naiv, klar, beharrlich aufrecht geschrieben. Farbenreich, regensatt, sonnenglühend. Erhobenen Hauptes in diesem dauernd diensttuenden Nichts. In diesem »stahlharten Gebäude« Welt, wie Max Weber schrieb.
Bis zur Auflösung des Kulturministeriums 1987 betrieb er die »Talleres de Poesia« - Werkstätten des schönen Ehrgeizes, nicht schriftlos leben zu wollen: eine Poetensprechstunde für Arme. Bauernhilfe mit Bleistift. Eine Art sandinistischer »Bitterfelder Weg«, gezogen durch Bergdörfer, Plantagen des Tagelohns und Unterstandsgräben der Volksarmee. Aber kein volkskünstlerischer Weg nach jenem üblichen staatssozialistischen Muster, das den Patriotismus zu gereimten Phrasen hämmert und so die kantigen Ungereimtheiten der Existenz rundschleift. Cardenal, der sich selbst einen »Sandinisten, Marxisten und Christen« nannte und 1980 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, sah in Pegasus keinen Ackergaul der Agitation, keinen Windmacher für flatternde Reden. Er lehrte Zuversicht, nicht Optimismus. In heißen Zeiten von Krieg und Revolution formte sich so eine (poetische) Geschichtsschreibung von unten, deren wahrhafter Blick auf die Geringen standhalten würde gegen jeden Versuch, Volksbewegung umzudeuten, zu marginalisieren, zu verunglimpfen.
Papst Johannes Paul II. sorgte Mitte der 80er Jahre für die Amtsenthebung des Priesters. Es gibt ein Bild, das um die Welt ging: Cardenal empfängt auf heimatlichem Boden den Polen Wojtyła - mit erhobener Faust. Der trojanische Reiter des Antikommunismus hebt daraufhin den strafenden Finger. Gegen einen Gläubigen, für den der Schöpfer nur als »Gott des Proletariats« denkbar schien. Im Februar 2019 hob Papst Franziskus den Bann gegen Cardenal auf.
Die innere Stärke von dessen lyrischem Werk entspringt nicht einer beruhigenden Anschauung der Welt, sondern just der Zerrissenheit - die aber immer wieder ein unstillbares Bedürfnis nach Aufhebung aller Spannungen erzeugt. Nie werden diese Spannungen sozial, weltanschaulich aufgehoben werden können, doch das Bedürfnis danach bleibt unsterblich. Und ist also ein wahrhaft herzrührender Glaube.
Das nicht Lösbare zu tragen, ist unser Los. Es so zu tragen, als sei es zu bannen, das ist eine unserer guten Gaben. Es ist Loslösung vom Fatalismus. Genau da setzt bei Cardenal Gottesnähe ein, die er auch in Texten über Laotse und Heraklit umkreiste: Es gibt Begriffe, Bilder, die existieren einzig deshalb, weil sie etwas benennen, das fehlt. Und das nicht leichtfertig mit Täuschung gefüllt werden darf. Es gibt Dinge, die ergreifen wir beim Wort, um zu spüren, wie sich die Gewissheiten entziehen. Aber beides gehört zusammen, das Ergreifen wie der Entzug. Heil und Hölle. »Diese Welt und eine andere« - so heißt eine von Cardenals Aufsatzsammlungen. Der Mensch nicht als Pfadfinder, sondern als Pfadsucher.
Für die deutsche Ausgabe seiner biografischen Gespräche »Mein Leben für die Liebe« hat einer der klugen deutschen Politiker, Norbert Lammert, eine Einleitung geschrieben. Ein Staunen vor der Energie, mit der sich ein Mensch seinen Idealen zu nähern versucht. Bezeugung für einen Dichter, dessen gedrungene, schmächtige Art wie eine besondere List des Zähen wirkte. Der wortmächtige Einflüsterer, dessen politische Sprache weniger Verlautbarung als Verkündigung war. Der unter schwarzer Baskenmütze zu weißem Bart oft wirkte, als spräche gar nicht er selbst, sondern als spräche es aus ihm. Nicht, als befinde er sich inmitten einer Wirklichkeit, sondern stünde vielmehr wie auf den Schultern der Wirklichkeit. Ein Getragener. Ein Erhobener mit Erdberührung. Und die Erde ist satt und nass und schwer und schwarz. Nährboden. Auf den Schultern der Wirklichkeit? Ein Platz auf Zeit. Wirklichkeit lässt fallen. Nun ist der große Dichter und Duldensbekämpfer Ernesto Cardenal im Alter von 95 Jahren gestorben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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