Nebenbei der Krieg
Nüchterne Geschichten aus einer abgehärteten serbischen Gesellschaft: »Herrenfahrrad ›Partizan‹« von Dragan Aleksic
»Wir hatten viel Spaß auf der Hochzeit, so lange, bis ein dünner, hoch gewachsener Typ mit einer orangen Perücke an der Restauranttür auftauchte. Mit der linken Hand setzte er sich eine große rote Clownsnase auf, mit der rechten Hand zog er aus der Seitentasche seiner Hose eine Pistole heraus und schoss auf uns.« Solche Brüche sind typisch für Dragan Aleksićs Erzählungen. Sie handeln vom Alltag, in den plötzliche Katastrophen hereinbrechen, seien es persönliche Tragödien oder der Krieg.
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Dragan Aleksic: Herrenfahrrad »Partizan«
A. d. Serb. v. Elvira Veselinovic u. Mascha Dabic. eta, 182 S., geb., 17,90 €.
Der Berliner eta-Verlag hat sich darauf spezialisiert, wichtigen literarischen Stimmen aus Südosteuropa mehr Gehör in Deutschland zu verschaffen. Dragan Aleksić ist eine dieser Stimmen. Er wurde 1958 in Bela Crkva geboren. 1992 erschien sein erster Roman, seitdem gilt er in Serbien als feste literarische Größe. Der Erzählungsband »Herrenfahrrad ›Partizan‹« ist sein drittes Buch, das in deutscher Übersetzung erscheint. Die darin versammelten Texte spielen vor allem in Serbien und in Ohio, wo der Autor heute lebt, aber auch in Eritrea, in Deutschland und an anderen Orten.
Die kurzen Geschichten haben es in sich. Manchmal erzählen sie nur kleine Episoden, manchmal ein ganzes Leben. Die Themen reichen vom ersten Sex über Partisanenkämpfe bis zu Kneipengesprächen. Die titelgebende Geschichte wird sehr unterhaltsam aus der Perspektive eines Fahrrads der Marke »Partizan« erzählt, aber sonst bleibt Aleksić bei den Menschen. Er huldigt in einigen der Erzählungen Idolen wie Wim Wenders, Peter Handke und Danilo Kiš, aber interessanter wird es, wenn er von Alltagsfiguren erzählt, für die sich sonst niemand interessiert. Zum Beispiel von Rajko, den alle nur »den Antifaschisten« nennen, weil er auch Jahrzehnte nach dem Krieg alle mit »Tod dem Faschismus« begrüßt. Er erzählt immer die gleichen Geschichten vom Partisanenkampf und betrinkt sich in den Kneipen der Stadt.
Rajko und viele der anderen Figuren leben in prekären, von Armut, Gewalt und Krieg geprägten Verhältnissen. Doch sie nehmen ihr Schicksal klaglos hin. Nüchtern und ohne jede Rührseligkeit werden auch die Schrecken dargestellt. Das, was sonst gerne dramatisiert und mit viel Emotionen erzählt wird, gehört hier einfach zum Leben dazu. Liebe, Verrat und Tod passieren ganz nebenbei.
In der Gleichgültigkeit und Passivität vieler der Figuren zeigt sich eine abgehärtete Gesellschaft, in der Gewalt zur Normalität gehört und für Empathie wenig Platz ist. Besonders erschreckend schildert Aleksić das in der Erzählung »Das kleine Buch vom Tod des Isaak Kalman und der Deportation aller Juden aus Bela Crkva im Sommer 1941«. Die Bewohner von Bela Crkva finden es »verrückt«, dass die Juden zusammengetrieben und abtransportiert werden, doch sie helfen ihnen nicht. Sie denken nicht an das Leid der Verfolgten, sondern sehen nur die praktischen Konsequenzen für das eigene Leben: »Ich kann nicht verstehen, was da heute Abend passiert ist! Wie soll denn die Stadt ohne die ganzen Juden auskommen? So viele Häuser stehen dann leer, dann die Läden, die Arztpraxen, Werkstätten, die untere Apotheke, die Schapsbrennerei … Im Gymnasium wird dann im Herbst ein neuer Mathematiklehrer gebraucht werden.«
Aleksić kommentiert das Handeln seiner Figuren nicht. Nüchtern, fast naiv lässt er seine Ich-Erzähler das eigene Leben beschreiben. Ihr Ton unterscheidet sich nicht, ob sie von ihrem Alltag oder vom Bombenhagel erzählen. Das ist in seiner Nüchternheit ergreifend und häufig sehr brutal. Da Aleksić das Geschilderte nicht einordnet, nicht vorgibt, wann etwas schlimm oder schön gefunden werden sollte, müssen die Leserinnen und Leser das selbst entscheiden, was die Lektüre umso spannender macht.
In den 32 Erzählungen hat man ausreichend Gelegenheit, die Brutalität, aber auch die Schönheit von Dragan Aleksićs Prosa zu erleben. Sie erinnern daran, dass Krieg und Gewalt nicht losgelöst vom Alltag, vom sogenannten normalen Leben geschehen. Wahrscheinlich ist das, was von außen als Gleichgültigkeit erscheint, einfach der verzweifelte Versuch, das gewohnte Leben weiterzuleben, solange es geht. Heldinnen und Helden findet man bei Aleksić genauso wenig wie im wahren Leben.
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