Überall ist Hass
Ostdeutsche Erfahrungen sind auch migrantisch und of Color: »1000 Serpentinen Angst« von Olivia Wenzel
Panikattacke vor dem Snack-Automaten, an irgendeinem Bahnhof. Sie scheint die Kontrolle und die Orientierung zu verlieren. Zeit und Ort geraten durcheinander, ebenso die Erinnerungen. »Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch«, so die namenlose Protagonistin in Olivia Wenzels Debütroman »1000 Serpentinen Angst«.
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Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst.
Fischer, 352 S., geb., 21 €.
»Check your privilege!«, sagt man heute in feministischen Kreisen oft - das Hinterfragen der eigenen Machtposition innerhalb der Gesellschaft wird vorausgesetzt. Die junge Protagonistin fliegt wie viele ihrer Generation durch die Welt, der deutsche Pass macht es möglich. Doch sie ist als afrodeutsche Frau überall mit Hass konfrontiert, mit einer Furcht, die sie nicht mehr loslässt. Was bedeutet es, eine Identität zu haben, die Schwarz und ostdeutsch zugleich ist? Was macht ständiger Rassismus mit der Psyche?
Ob in den USA nach Trumps Wahl, in der eigenen Familie oder wenn Nazis an einem Badesee im Berliner Umland auftauchen: Für die Protagonistin sind feindselige Blicke und Kommentare immer spürbar. Die Gedanken kreisen, immer wieder, um Fragen wie: »Wo kommst du her?« und: »Wovor hast du Angst?« Die Protagonistin stellt hier nüchtern fest: »Für mich ist es wahrscheinlicher, beim Spazierengehen an Brandenburger Seen von drei Nazis krankenhausreif geprügelt zu werden, als mitten in New York oder Berlin, irgendwo in der U-Bahn oder einem gemächlich kreisenden Restaurant, Opfer eines islamistischen Anschlags zu werden.«
Olivia Wenzel schreibt meist in Dialogform, mit wem die Protagonistin das Gespräch führt, bleibt jedoch unklar. Es braucht Zeit, um die Handlung zu verarbeiten, um als Leser*in überhaupt in dieser collagenartigen Erzählung Halt zu finden. Wenzel wirft Zeitebenen und Handlungsorte durcheinander, schreibt einzelne Szenen, die sich irgendwann zusammenfügen. Hier merkt man auch eine Nähe zur Bühne. Die Autorin wurde 1985 in Weimar geboren, lebt in Berlin und ist neben dem Schreiben von Prosa als Musikerin und vor allem als Theatermacherin aktiv.
Ihr Debüt wurde schon vor dem Erscheinen mit dem renommierten Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. Zu Recht - kein deutschsprachiger Roman beschreibt so eindrücklich, wie sich Deutschland im Jahr 2020 für marginalisierte Menschen oft anfühlen kann. Wenzels Debüt stellt vor allem die gelebte Erfahrung Schwarzer Frauen in den Fokus, eine Perspektive, die in der deutschsprachigen Literatur bisher zu kurz kam. Sie lässt ihre Protagonistin auch von hybriden Identitäten erzählen, vom Aufwachsen als afrodeutsches Kind in der DDR. Ostdeutsche Erfahrungen sind eben auch migrantisch und of Color.
»1000 Serpentinen Angst« ist zugleich eine Form von Traumaverarbeitung, bei der das Persönliche wie selbstverständlich auch politisch ist. Beides voneinander zu trennen, wäre ein Privileg, über das die Protagonistin nicht verfügt.
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