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Durch das Fenster eines türkischen Polizeiwagens
Unser Reporter wurde im türkisch-griechischem Grenzgebiet verhaftet - dabei hat er die katastrophale Situation der Flüchtlinge beobachten können
Ganz beiläufig schlägt er zu. Mal auf den Rücken. Zwei gemächliche Schritte. Dann trifft es eine Schulter. Als ein junger Mann schon vor dem Schlag zusammenzuckt, stoppt er kurz, lächelt ihn an und schlägt dann doch zu. Ein paar Minuten beobachte ich, wie der türkische Soldat jedem einen Hieb verpasst, der es wagt, ein paar Zentimeter aus der Warteschlange auszuscheren. Dann endet meine Zigarettenpause und der Polizist, der zu meiner Bewachung abgestellt wurde, sperrt mich zurück in den Polizeitransporter.
Zwei Tage zuvor hatte meine Reise an die türkisch-griechische Grenze begonnen. Über die katastrophale humanitäre Situation von tausenden Menschen wollte ich schreiben, deren Hoffnung auf ein Leben in Würde in Stacheldraht und Tränengas der EU endete. Und darüber, wie es türkische Behörden Journalisten zunehmend schwer machen, über die Situation an der Grenze zu berichten. Ich ahnte nicht, dass ich von beidem erst eine Ahnung bekommen sollte, als ich selbst auf dem Rücksitz eines Polizeitransporters Platz nehmen musste.
Meine Recherche beginnt in Edirne, am westlichen Zipfel der Türkei. Rund sieben Kilometer sind es von hier noch bis zum Grenzübergang Pazarkule. Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor zwei Wochen verkündete, die Grenzen in Richtung Europa seien offen, wurde die 150 000-Einwohner-Stadt für viele Flüchtlinge zum ersten Anlaufpunkt. Bilder von Familien, die am Busbahnhof auf Pappkartons übernachteten, kursierten in den Medien. Doch als ich in der Stadt ankomme, ist von all dem kaum noch etwas zu sehen.
Es dauert nicht lang, bis ich den Grund dafür erfahre. »Die Polizei nimmt jeden von uns mit, den sie in der Stadt erwischt. Wir haben nur die Wahl: An die Grenze oder zurück nach Istanbul«, erzählt der 21-jährige Omar, der seit fünf Jahren auf der Flucht vor dem Krieg im Jemen ist. Dreimal hätten ihn türkische Polizisten in Edirne aufgegriffen und an die griechische Grenze geschafft. Dreimal sei er von griechischen Grenzbeamten aufgegriffen, verprügelt, ausgeraubt und zurück in die Türkei geschafft wurden. Spätestens als am Abend ein halbes Dutzend Polizisten unser Hotel stürmen und Omar mitnehmen, weiß ich, dass er Recht hat.
Auch für Journalisten endet um Edirne schon die Freiheit. Mehrere Kollegen berichten mir, sie seien schon auf dem Weg in die Stadt von Polizisten gestoppt und zurück nach Istanbul geschickt worden. An den Ausgängen der Stadt haben türkische Polizisten Kontrollpunkte aufgebaut. Passieren dürfen nur drei Gruppen: türkische Anwohner, Personen mit der entsprechenden Sondererlaubnis und Leute, die das Glück haben, an einen Polizisten zu geraten, der es mit all dem nicht zu genau nimmt. Ich gehöre zu letzterer Gruppe.
Rund zwei Straßensperren weiter westlich von Edirne liegt Karaağaç. Von hier sind es noch drei Kilometer bis zur Grenze. Türken verbringen in dem verschlafenen Vorort gern ihre Wochenenden. Für Tausende Flüchtlinge ist Karaağaç hingegen der letzte verbliebene Versorgungspunkt. Eine lange Schlange wartender Menschen drängt dem einzigen Supermarkt des Ortes entgegen. In den Cafés des Dorfes sitzen junge Männer um abenteuerliche Konstruktionen aus Steckdosenleisten und Ladegeräten. »Afghanistan, Iran, Syrien, Bangladesh, Irak…«, geht es reihum, als ich in eine der Runden frage, woher sie alle kommen. »So unterschiedlich wir doch alle sind, eines haben wir alle gemein«, fasst ein irakischer Kurde die Vorstellungsrunde zusammen: »Wenn wir nach Hause zurückkehren sind wir alle tot«, sagt er und löst ein eher verhaltenes Lachen in der Gruppe aus. Und noch etwas teilen sie: ihren Frust auf EU und Türkei. »Wir werden geschlagen, wir können uns nicht waschen, meine Kinder haben schlimmen Husten von dem Tränengas«, erzählt der Afghane Mohammad und zeigt ein Foto von einem in Decken gewickelten Baby. Auf die Frage, ob er ans Umkehren denke, fragt er zurück: »Wohin?« Als er gehört habe, dass die Grenze offen sei, habe er alles verkauft. »Wir haben nichts mehr.« Mindestens ein Dutzend Gespräche führe ich an diesem Tag. Fast jedes handelt ebenso von Gewalt und Diskriminierung türkischer Beamter wie von der Brutalität griechischer Grenzschützer.
Es dauert nicht lang, bis die Gewalt gegen Flüchtlinge auch in Karaağaç spürbar wird. Polizisten auf Motorrädern fahren durch das Dorf und räumen Cafés. »Nur Einkaufen und dann zurück zur Grenze«, ruft einer und verleiht seinen Worten mit einem kräftigen Stoß Nachdruck. Ziel von Kontrollen werden auch die wenigen verbliebenen Pressevertreter in Karaağaç. Polizisten in Zivil befragen jeden, der so aussieht, als gehöre er hier nicht hin. Die einzigen Reporter, die sich offen als solche zu erkennen geben, halten Mikros mit den Logos türkischer Staatsmedien in der Hand.
Plastiktüten als Bett
Gemeinsam mit einer Gruppe Afghanen gehe ich weiter in Richtung des Camps. Bewacht von Polizei und Jandarma schiebt sich eine lange Schlange aus Menschen mit Plastiktüten den Feldweg entlang. Neben einem verrosteten Traktor wartet der nächste Kontrollpunkt auf uns. Spätestens hier ist offiziell auch für türkische Anwohner Schluss. Rund zehn Minuten Fußweg weiter beginnt das Camp am Grenzübergang Pazarkule. Ein paar hundert Meter davor mache auch ich halt. Ein Zaun umgibt das Lager, dahinter sind alle zehn Meter Soldaten und Jandarma postiert. Am Einlass kontrollieren Polizisten die Ausweise von jedem, der das Camp betreten will. An ein unautorisiertes Betreten ist ab hier nicht mehr zu denken.
Am Straßenrand treffe ich auf eine Gruppe Algerier. Einer von ihnen ist Malik. Ihr Land hätten sie aus politischen Gründen verlassen müssen, erklärt er, und nun fürchteten sie, dass die Türkei sie zurückschickt. Seit fünf Tagen würden sie hier auf dem Feld schlafen, sagt Malik und zeigt auf ein paar Plastiktüten, die sie unter einem Baum ausgebreitet haben. Rund eine Stunde sitzen wir gemeinsam auf dem Acker. Als ich mit dem Gedanken spiele, mich so langsam auf den Weg zurück zu machen, kommen zwei Soldaten angelaufen. »Mitkommen« rufen sie uns zu und führen uns ins Camp.
Bevor mir auch nur eine Frage gestellt wird, stehe ich schon breitbeinig an einem Polizeitransporter. Sekunden später bin ich Kamera, Handy und alles andere, was ich dabei hatte, los. »Deutscher Journalist« geht es durch die Traube aus Soldaten, Jandarma und Polizisten, die sich um mich herum versammelt hat. Dann prasseln die Fragen auf mich ein: Woher kommst du? Für wen arbeitest du? Warum hast du versucht, illegal das Camp zu betreten? »Hätte ich vorgehabt, illegal das Camp zu betreten, würde ich sicherlich nicht eine Stunde an einem Feldweg in Sichtweite des Haupteingangs herumsitzen«, versuche ich mich zu erklären. Aber wirklich an einer Antwort scheint niemand interessiert zu sein. Als mich einer der Polizisten nach meiner Meinung zur türkischen Flüchtlingspolitik fragt, tue ich die Frage mit einem »Was spielt das denn für eine Rolle?« ab. Dabei war die bisher durchaus wohlwollend. Ich wusste durchaus zu schätzen, was es bedeutet, wenn ein Land mit der Wirtschaftskraft von Nordrhein-Westfalen dreimal so viele Flüchtlinge aufnimmt wie die gesamte Europäische Union. Auf Reisen in den Osten der Türkei hatte ich erlebt, wie solidarisch Menschen gegenüber Flüchtlingen sein können, die selbst sonst kaum etwas haben. An der syrischen Grenze habe ich türkische Flüchtlingslager besucht, die so gut organisiert waren, wie man es in Europa nirgends findet.
Doch Pazarkule ist keines davon. Warum ich nach meiner Verhaftung mehrmals durch das ganze Camp gefahren werde, teilt man mir nicht mit. Ich vermute, die Polizisten hatten schlicht keine Zeit, mich zur Polizeiwache in die nächste Stadt zu bringen. Sicher ist: Erst sie ermöglichen mir, mit eigenen Augen zu sehen, warum ausländischen Journalisten hier so vehement der Zutritt verweht wird. Die Ironie der Geschichte ist: Erst der Versuch, mich von der Berichterstattung über das Camp abzuhalten, ermöglicht mir eben diese.
Schwer bewaffnete Begleiter
Statt an ein improvisiertes Camp, das errichtet wurde, um die humanitäre Situation im Griff zu behalten, erinnert Pazarkule eher an ein militärisches Internierungslager. Bewacht von schwer bewaffneten Soldaten der türkischen Armee und eingezwängt hinter hohen Gitterverschlägen stehen endlose Reihen wartender Menschen. »Dient alles nur der Sicherheit«, antwortet mein Jandarma-Aufpasser, als ihn danach frage, warum Soldaten mit Sturmgewehr, Knüppeln oder Plexiglasschildern Menschen bei der Essensausgabe begleiten.
Während in ein paar hundert Metern Entfernung die Schüsse des griechischen Soldaten knallen und immer wieder Tränengaswolken emporsteigen, erinnert auch auf türkischer Seite nichts an die »offenen Grenzen«, die Erdoğan den Menschen versprach. Am Ein- und Ausgang registrieren Polizisten die Fingerabdrücke von jedem Flüchtling, der das Camp betritt oder verlässt. Verlassen dürfen es - so haben es mir mehrere Flüchtlinge später berichtet – nur einige hundert pro Tag. Nach festgelegtem Zeitplan. Und nur für wenige Stunden. Den meisten der 15.000 Menschen bleibt der Ausgang verwehrt.
Am Eingang treffen unterdessen immer wieder Busse mit neuen Flüchtlingen ein. Zelte, Schlafsäcke und viele andere Hilfsgüter - so erklären Geflüchtete und Vertreter von Hilfsinitiativen mir später übereinstimmend - scheitern hingegen an den strikten Einlasskontrollen. Den meisten Bewohnern bleiben deshalb nicht mehr als ein paar Pappkartons und Plastikplanen als Behausung. Tausende solcher improvisierten Unterkünfte erstrecken sich über die Felder am Grenzübergang.
Eine Gruppe Jugendlicher versucht einen Baum zu entwurzeln, um aus ihm Feuerholz zu machen. Eine stillende Mutter sucht unter ein paar Einkaufstüten vergeblich so etwas wie Privatsphäre. Kinder ohne Schuhe spielen mit etwas, das aus der Ferne aussieht wie ein leere Tränengasgranate. Viele der Szenen erinnern an Bilder, wie man sie bisher aus Lesbos, Idomeni oder Calais aber kaum aus türkischen Flüchtlingslagern kannte. Ausgerechnet hier, am europäischsten Zipfel der Türkei, beginnt auch die türkische Flüchtlingspolitik im schlechtesten Sinne des Wortes europäisch zu werden.
Rund drei Stunden dauert mein unfreiwilliger Besuch im Camp. Dann verlässt der Polizeitransporter mit mir auf der Rückbank das Lager. Vier Kontrollpunkte später biegen wir auf den Hof der Jandarma in Edirne ein. Die meisten Beamten behandeln mich anständig. Als ich nach Wasser frage, bekomme ich es. Noch zwei Stunden verbringe ich in einem Warteraum. Fünf Stunden nach meiner Festnahme bin ich wieder frei. Meine Verhaftung als Journalist erinnert zum Glück nicht an das Bild, das man gemeinhin von der Türkei hat. Der Umgang der Türkei mit schutzsuchenden Menschen an ihrer Grenze leider auch nicht.
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