Verschärfte Doppelbelastung

Wie Alleinerziehende in Japan versuchen, mit wochenlangen Schulschließungen klarzukommen

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

»Er kann abends nicht mehr einschlafen«, schnauft Chika Tsuda. Der Ausnahmezustand mit schon seit zwei Wochen geschlossenen Schulen in Japan sei nicht gut für ihren achtjährigen Sohn. »Er wird kaum noch gefordert, sitzt den ganzen Tag am Computer und spielt Onlinegames mit seinen Freunden.« Normalerweise powere die Schule die Kinder aus, sagt die 37-jährige Tsuda. Und jetzt? »Eigentlich ist mein Sohn aus dem Alter raus, aber wir müssen wieder alles Mögliche ausdiskutieren: Muss man heute wirklich die Zähne putzen? Oder heute wirklich zu Mittag essen?«

Für die alleinerziehende Chika Tsuda ist die Situation nicht nur anstrengend. Die Unausgeglichenheit ihres Kindes hält sie von der Arbeit ab, die sie gleichzeitig zu erledigen hat. Die Geschichtslehrerin aus Kobe muss Arbeiten korrigieren, Unterrichtspläne erstellen, Beurteilungen schreiben. Parallel muss nun dreimal täglich Essen auf den Tisch und immer mal wieder nach dem Kind gesehen werden. »Unter diesen Umständen ist es unmöglich, sich so auf die Arbeit zu konzentrieren, wie es eigentlich nötig wäre.«

Neben den erkrankten Personen belastet die aktuelle Krise um Covid-19 vor allem die Alleinerziehenden, meistens Mütter. Weil Japan kein gemeinsames Sorgerecht kennt, tragen immer noch Frauen den Großteil der Verantwortung für die Kindererziehung. Darüber hinaus ist ihre die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt in Japan besonders groß. Bei alleinerziehenden Müttern liegt der Anteil relativer Armut bei 56 Prozent. Für die meisten ist es daher schlicht unmöglich, bei der Arbeit zurückzustecken, um sich voll dem Kind zu widmen.

Ende Februar empfahl Premierminister Shinzo Abe allen Schulen im Land, zunächst für zwei Wochen zu schließen. Das Coronavirus hatte zu dem Zeitpunkt rund 900 Personen im Land infiziert, deren Infektionsrouten sich in vielen Fällen nicht nachverfolgen ließen. Weil die Regierung angesichts ihres teils unbeholfenen Krisenmanagements um das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess in der Kritik stand, signalisierte sie fortan Entschlossenheit. Neben Schulschließungen wurde Menschen geraten, von zu Hause aus zu arbeiten und die tägliche Rushhour zu meiden. Viele Großveranstaltungen wurden abgesagt.

Wie wirksam die Maßnahmen sind, ist derzeit schwer zu sagen. Zwar ist der Anstieg bestätigter Infektionsfälle mittlerweile eher linear als exponentiell. Gleichzeitig weisen Gesundheitsexperten darauf hin, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. Es wird nämlich davon abgeraten, vorschnell ein Krankenhaus aufzusuchen, um das Gesundheitssystem nicht weiter zu belasten. Vor allem jüngere Menschen sind in der Statistik unterrepräsentiert - weil sie kaum getestet wurden?

»Eigentlich ist es gut, dass die Kinder erst mal zu Hause bleiben«, sagt Mariko Akechi. »Aber die ganze Bürde wird jetzt auf uns Müttern abgeladen.« Auch die 44-jährige Journalistin aus Tokio ist alleinerziehend. Ihre 16-jährige Tochter erledige viele Dinge zwar unabhängig und verhalte sich meistens vernünftig, doch Akechi muss nun jonglieren. In die Zeit während der Erstellung der Texte, die sie am Nachmittag an Magazine und Zeitungen rausschicken muss, drängt sich das Aufwecken, Kochen und überhaupt das Dasein für die Tochter. »Es gab von der Regierung überhaupt keine Hinweise oder Anweisungen, wie Eltern mit dieser Situation umgehen sollen«, klagt sie. »Als wäre das Problem damit gelöst, indem die Kinder einfach zu Hause abgeladen werden.«

Immerhin heißt Quasi-Quarantäne nicht, dass die Kinder das Haus gar nicht mehr verlassen. »Meine Tochter trifft sich mit Freunden und geht ins Kino«, berichtet Mariko Akechi. »Alle anderen machen das auch so.« Anderswo berichten Eltern, dass sich Kinder, denen daheim die Decke auf den Kopf fällt, heimlich rausschleichen, um im Park wohl Fußball oder Baseball zu spielen.

Für Mütter wie Mariko Akechi ist das Verhalten der Kinder ein zweischneidiges Schwert. Einerseits erlaubt die Abwesenheit ihrer Tochter, dass sie sich auf die Arbeit konzen-trieren kann. Andererseits steigt das Risiko, sich draußen zu infizieren und das Virus mit hereinzubringen.

Es gibt kaum Anzeichen, dass sich die aktuelle Lage bald normalisieren wird. Mittlerweile sind landesweit um die 1500 infizierte Personen festgestellt. Am Samstag verzeichnete Japan 63 Neuinfektionen, ein bisheriger Tagesrekord. Chika Tsuda hat eine E-Mail von der Schule ihres Sohnes erhalten. Die Eltern mögen sich darauf einstellen, dass die schulfreie Periode andauern wird. Auch Japans Regierung hat verkündet, dass ihre Anweisungen zur Meidung von Menschenansammlungen und zum Arbeiten von zu Hause weiter Bestand hat.

Doch nur unerträglich ist die derzeitige Lage auch nicht. »Für die Kinder hat die Zeit daheim auch etwas Gutes«, sagt Chika Tsuda. »In der Schule müssen sie immer so viel lernen, schon von jungem Alter an. Jetzt können sie es mal etwas ruhiger angehen lassen.« Ihr achtjähriger Sohn erhält zwar Hausaufgaben zugeschickt. »Angeblich macht er die auch, sagt er mir.« Sie selbst schaue jetzt nicht so genau hin - weil ihr die Kraft fehle und weil sie ihren Sohn gut verstehen könne.

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